»werden stollen statt stullen die stellen stillen??«
Ludwig Wolfgang Müller
Im August 2012 lud Franziska Röchter innerhalb des Kreises der Poesiegipfelteilnehmer zur Beteiligung an einer kleinen lyrischen »Mitmachaufgabe« ein, um untereinander einen poetischen Kommunikationsprozess in Gang zu setzen. Dabei sollte spielerisch ein Kettengedicht entstehen – in Anlehnung an das Renga (jap. 連歌), das traditionelle japanische Kettengedicht. Dieses besteht aus der Aneinanderreihung von Tanka – japanischen Kurzgedichten – und entstand als literarische Form im Mittelalter. Tanka wurden zu lyrischen Formen mit bis zu 100 Strophen verbunden, hierbei beträgt der »Oberstollen« 5:7:5 Silben und der »Unterstollen« 7:7 Silben.
Die Aufgabe sollte nicht dogmatisch angegangen werden, alle, die mitdichteten, hatten die Wahl, auch nur fünf oder drei oder noch weniger Verse beizusteuern. Dabei sollten die unterschiedlichsten Arten der Verlinkung Anwendung finden, sowohl was die Strophenverbindungen als auch was die Progression (das Moving Ahead, das Vorwärtsschreiten) und die Veränderung von Themen und Eigenschaften betrifft. Es stand den Dichtern frei, entweder nur den Oberstollen (5:7:5 Silben) oder den Unterstollen (7:7 Silben) anzufertigen.
Das Thema lautete: Was die Poesie verändern kann – Die Lyrik der Zukunft – Eine kleine Huldigung der Verskunst.
Es wurde eine Anfangsstrophe in die Runde gegeben. Daraufhin kamen – oft fast zeitgleich – mehrere Antworten zurück. Bei sehr spezifischen Anknüpfungen an die vorausgehenden Zeilen musste deshalb bisweilen etwas jongliert und ggf. auch umformuliert werden. Alle Beteiligten mussten schnell reagieren. Das zügig wachsende Gedicht wurde immer wieder anonymisiert in die Runde gegeben. Als Zeitraum waren ursprünglich vier Wochen angesetzt, aber schon nach acht Tagen war das Kettengedicht auf 36 Strophen von 18 Dichtern angewachsen und konnte für »fertig« erklärt werden.
Was wäre…
1
Wenn dein Gedicht ganz
grenzfrei ohne Schlagbaum wär,
sich wie ein Band für
Maienkränze drehte, schwer
fassbar, im Winde wehend
Franziska Röchter
2
fiele, sich lächelnd rankte
durch die Gehirne
der Welt und in die Herzen
schlüpfte, von dort sich singend
in die Natur verströmte
Alfons Schweiggert
3
eins würde mit Licht
und Luft und leichten Düften,
von Wolken umspielt
und vom Regen ausgeteilt
an das vertrocknete Land
Josef Wittmann
4
und der wind himmlisches kind
gäb die richtung vor
südwind ostwind westwind kaum
vorhersehbar wie ein vers
der heute für ewig gilt
Rudolf Kraus
5
ströme Römer-Rum
öle uns die Stimme fein
sing Inge so rein
damit die Welt dich höre
grenzüber frei und fassbar
Horst Samson
6
wenn es brummte und blökte
im takt sich drehte
wenn es krachte und lachte
sich selbst erdachte als klang
gespinst sein hütchen kühlte
Augusta Laar
7
fasse ich dich und greife
deinen sinn mit hirn
ohren augen und geschmack
koste mich durch von alpha
bis zeta duft im körper
Manfred Chobot
8
als tütchen das gedicht
sich geschwinde dann
beim kaufmann fände, gewaagt
umhüllt um nüsse
die der leser knacken müsste
Ralph Grüneberger
9
als bleistiftspitze
kohlestaub auf weißes feld
verstreute spur um
spur sich tragen ließe ab
und ein gezeichnet offen
10
immer schon entblößt
und niemals nie bedeckt mit
einem blatt entdeckt
es sich im gehen selbst im
fliegen staunt es lauscht und flieht
Semier Insayif
11
vor elefanten
diesen grauen mitten in
der stadt passanten
schauen glauben nicht dem bild
der wildnis im gehege
Alma Larsen
12
das nach außen strebt
bunte städte neu zu bau’n
das die stimme hebt
gegen armut und schächten
für (selten!) sprachlose frau’n
Franziska Röchter
13
dann käm dies Gedicht
Wort für Wort und Vers um Vers
dir in die Quere
und auch Strophe um Strophe
und du müsstest es singen
14
du kämst ihm nicht aus
verhedderst dich Wort im Wort
verschnurzt dich im Ton
schluckst Vokalkonsonanten
lallst glupsend Salbaderschleim
Alfons Schweiggert
15
dann ergröffe es schnell das
Hurz des Digtators,
die Söle des Bischopfs,
das Hürn des Weihsen,
so unfassbar schnell, dass ein
Hardy Scharf
16
Sekündchen nur reicht
um auf dem Kopf zu stehen,
denn wer auf dem Kopf
steht, der hat den Himmel als
Abgrund ganz weit unter sich
Alfons Schweiggert
17
Wo ich wohn, liegt gut und gerne
gleich hier vorn in weiter Ferne.
Und ich fahr in schnellem Schritt
fort nach Haus allein zu dritt.
Dort mit flüchtig zähem Leim
schneid ich ab den letzten
… Reim.
Uwe-Michael Gutzschhahn
18
es sind diese schwarzen
dingerchen, auf weiß meist
bescheiden tuend
die schwerer wiegen
als die welt, dir
auf dem rücken kugelnd
Siegfried Völlger
19
und Träume schweben
leise blubbernd hinterher,
von bessern Welten
(wo hehre Werte gelten),
Freibier und Geschlechtsverkehr.
Wolfgang Oppler
20
to undo revel
reveal to marvel to do
redo rewind what
lets unhappen turn into
happen and turns it to speak
Ulrike Draesner
21
wia de schproch so redn tuat
hot se wos zum sogn
reissn mia de pappn auf
dazööln is oiweu bessa
ois de uan aunlegn kuschn
Manfred Chobot
22
sprechen, ein vers-prechen
der mund steht offen, ein Tor
zur Welt, ihr zugewandt
und auf der zunge zergeht:
eiscreme jedes wort
Ralph Grüneberger
23
und redt in Grenzn,
ko aber weit aussi fliang,
ko diaf innen nei
gråbm, mit de Zugveegl ziahng,
findt d Wäid in da Nähe, siehgt
Josef Wittmann
24
dada dada aa
brada vada waaß nix da
aada aada da
nixda xinpin dada la
axdan dixpin upsala
Rudolf Kraus
25
2 x 5 silben
tragen die 7 als h:erz
2 x 5 silben
silbern ver2felt die n8
vers7 sich s8: wer fehlt?
Semier Insayif
26
warte auf worte
wirte warten auf werte
wir warten wortwert
den der werte erwartet
werden wärter bewirten
werden stollen statt stullen die stellen stillen??
Ludwig Wolfgang Müller
27
do dadada
a gedichd schreim
do dadda
goanix iwableim –
do dadsd du ling
bevoasdas dadengsd
da(nn) würde ich dir
ein gedicht schreiben
da würde dir
garnichts anderes (übrig)bleiben
da würdest du liegen
bevor dus mitm verstand erfasst hast
Siegfried Völlger
28
von oben nach untern geschrieben
und so zu lesen:
wenn sich die richtung
verschiebt und der sinn entgleist
wenn die gewichtung
selbstverliebt ins nichts verweist
zerstiebt und der faden reißt
Alfons Schweiggert
29
nichts sehen und mehr
sehen, als die sehen, die
sehen und mehr, als
die hören, hören, die doch
alles sehen und hören
Zur Kontrolle – Das Blindenalphabet
Alfons Schweiggert
30
Europablinde
Binde vor allen Augen?
Führte Zeus als Stier
Sie ins Verderben?
Und wir erben ihr Sterben!?
Horst Samson
31
Kettengedicht fällt
trotz unendlicher Geduld
in mein Notizbuch.
Fritz Deppert
32
Klappe zu, aus Maus, Ende.
Grenzenlos? Nur die Mühe.
Aber unerhört …?
Schon kehrt es reich an Sprachen
zurück in sein Dorf.
Schüttelt die alten Freunde,
die schläfrig geworden sind.
Josef Wittmann
33
ein Gedicht ganz
ohne seinen Dichter
vielleicht nur
ein Gericht erdacht
von seinem Richter
Melanie Arzenheimer
34
verklungen kling klang
die Sprengkraft bleibt die Zündung
blank buchstabe für
buchst – a – b – c – d – e
fghi j k l
m n o p
q r
s t
u
v w
x y
z
Alfons Schweiggert
35
die luft ist raus
ich geh nach haus
bimmela bimmela bum
wer lyrik sucht, lyrik bucht
sieht sich nach einem
DAS-GEDICHT-ABO um
Ralph Grüneberger
36
das wärme spendet
wenn strahlend mächtig im rund
schweigender dichter
das lyrische ich – (v)erkannt –
feststellt: ein großflächenbrand!
Franziska Röchter
COOL!
Eine großartige Idee, regt mich als bildenden Künstler zu einer Text-Bild- Gestaltung an.Ich bin begeistert!