»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Michael Hüttenberger
Quod erat demonstrandum
Ein Rehlein trägt ein Schild am Stock.
Der Förster siehts, erstillt vor Schock,
denn neben ihm die Schildwutz
protestet auch für Wildschutz.
Im Schilderwald das Wild erschallt.
Es schallt im Wald vom Wild, das schilt.
Das Wild des Walds, es schilt, drum schallts.
Was führt das Wild im Wald im Schild?
Ein wilder Wald mit Wild, das chillt
trotz allem Schildertrutz und Weh,
wär gut für Förster, Wutz und Reh.
© Michael Hüttenberger, Darmstadt / Stedesdorf
+ Das Original
Die »Fünf Vokalvertauschungsgedichte« von Robert Gernhardt sind hier das Vorbild, besonders die Nummer drei inspirierte Michael Hüttenberger. In ihr sind nämlich nicht nur der sprachspielerische Vorgang und die Art, mit Metrum, Reim und inhaltlichem Kontext umzugehen, vorgegeben (das ist bei den anderen vier Gernhardtschen Vokalvertauschungs-Poemen ebenso der Fall), sondern es ist auch das Thema gestellt: der deutsche Wald. Lustvoll, ungehemmt und aus zweifellos moderner Perspektive heraus bearbeitet Gernhardt in aller beiläufigen Kürze sowie augenzwinkernder und flapsiger Manier hier einen der größten Topoi deutschsprachiger Literatur – und Hüttenberger tut es ihm gleich, ja, führt seinen modernen Ansatz gar noch weiter, indem er das Wild zum Zoon politikon, zum demonstrierenden Gegenwartsbürger formt. Zudem zeigt sich Hüttenberger hier formal besonders finessenreich: Er als Meister des Sonetts liefert mit »Quod erat demonstrandum« ein sozusagen unvollendetes Werkstück dieser »bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs« (um einen der bekanntesten Gernhardt-Titel anzureißen) ab: Die Sonett-Grundform scheint an allen Ecken und Enden durch, wirklich eingehalten jedoch wird sie nie, und das letzte Terzett fehlt, passend zum Ruhe fordernden Schluss, ganz.
+ Zum Autor
Michael Hüttenberger, 1955 in Offenbach geboren, lebt als freier Autor in Darmstadt und Stedesdorf (Ostfriesland). Seine Schaffensschwerpunkte sind: Lyrik und Kurzprosa sowie Kommentare und Glossen. Gewinner Science-City-Slam Darmstadt 2007, Stockstädter Literaturpreis 2012, Krimipreis Wardenburg 2013, zweiter Platz Mannheimer Literaturpreis 2014 (Lyrik) und Finalist beim Menantes-Preis für erotische Dichtung 2016. Er war Mitinitiator und einer der zentralen »Spieler« der Lyriker-Mannschaften, die unter Leitung von Jan-Eike Hornauer die Fußball-WM 2014 und die EM 2016 auf DAS GEDICHT blog in Versform kommentierten (siehe »Vom Leder gezogen 2014« und »Vom Leder gezogen 2016«). Sein bevorzugtes Mittel hier: das Sonett. Zudem ist er einer der zentralen Poeten von »Gedichte mit Tradition«. Zuletzt von Hüttenberger erschienen sind u. a.: »Ich Huhn, ich wollt, ich wär … – 111 human Identities« (Miniaturgeschichten; WK-Mediendesign-Verlag), »Bärendienstag. Eine weihnachtliche Bärengeschichte« (Kinderbuch mit Illustrationen von Wiebke Logemann; Brune-Mettcker-Verlag) und »Ostfriesische Perspektiven« (Lyrik und Prosa; Druckwerkstatt Kollektiv Verlag). www.MichaelHuettenberger.de
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.