Poesie. Meditationen – Folge 15: Was Lyrik kann

In den »Poesie. Meditationen« treffen Sie Timo Brandt: Der junge Lyriker und Lyrik-Kritiker (Jahrgang 1992) lässt Sie teilhaben an seinem ganz persönlichen Zugang zur Lyrik: Bei der Lektüre von Gedichten fließen Eindrücke zum Tagesgeschehen und poetische Impressionen zusammen. Der Leser begibt sich in einen beinahe meditativen Zustand, ganz im Hier und Jetzt und achtsam gegenüber den Phänomenen im gegenwärtigen Augenblick. Der Verknüpfung von Gedicht und Gedankenfluss geht Brandts Kolumne nach.

 

Lyrik drückt sich in präzise formulierten Sätzen aus, die in ihrer Klarheit dennoch unbestimmt bleiben, das ist die Kunst – sie ist das Erschaffen einer deutlichen Grauzone, ihr bleibt nichts, was Gegensätzlich und/oder Verbunden ist, verborgen; sie offenbart, während sie von der Aussage auf die Behauptung ausweicht (und nirgendwo ist diese Unterscheidung so wichtig, wie in der Lyrik, nirgendwo ist dieser Unterschied so klar und der Sache verpflichtet).

Bei all diesen, noch zu gering skizzierten, Fähigkeiten: liegt da in der Lyrik eine Möglichkeit, im großen Stil gesellschaftlich zu wirken, ist sie nicht prädestiniert dafür, ein Werkzeug der Aufklärung zu sein, ein Aufkommen von Sensibilisierung zu gewährleisten, das richtige Maß an Weisheit, geknüpft an geringe Befehlsgewalt, innezuhaben?

Die beiden einfachsten Antworten darauf lauten: 1. Ja und in dem Maße, in dem sie wirken kann, wirkt Lyrik bereits genau auf diese Weise. Und 2. Nein, denn gerade die Eigenschaften, die Lyrik ausmachen, die ihr jene Autonomie verleihen, die oben beschrieben ist, verhindern, dass sie jemals ein Grundstein für irgendeine bleibende Wegweisung sein kann. Sie ist ein Seismograph, eine Art, die Welt zu verarbeiten, sie auszuloten, aber nicht, sie zu verbessern.

An beiden Antworten stört mich, dass sie zu eindeutig sind und in ihrer Art und Weise wenig mit ihrem Objekt, der Lyrik, gemein haben. Ich denke auch, dass Lyrik vor allem eine persönliche Angelegenheit ist, sowohl beim Schreiben als auch beim Lesen. Allerdings ist sie eine umfassende persönliche Angelegenheit, denn was in ihr vorkommt, ist nicht nur das Persönliche, sondern das Allgemeine, das Vielfältige, das Außerordentliche, das Gewöhnliche, das gesamte Repertoire des Sinnlichen und Geistigen, kurz gesagt: der Inhalt dessen, was wir mit allen Menschen teilen, was die Erfahrungen unserer menschlichen Natur ausmacht.

Deshalb glaube ich auch, dass Lyrik weit mehr kann, als sie derzeit tut. Jedes Mal wenn sie einen Gegenstand berührt, erstreckt sich diese Berührung ein wenig auf alle Gegenstände, die ihm gleichen und mit ihm zu tun haben. Das ist ein Potential, auf das noch zu wenige Menschen und Gesellschaften aktiv zugreifen. Und bei all diesen Vorteilen ist Lyrik eine ungeheuer ökonomische Form, in den besten Fällen ohne Überschüssiges und Überflüssiges, sie ist nicht schwer zu erreichen oder teuer, sie hat nichts Verwerfliches an sich und keine körperlichen Nebenwirkungen, schärft dafür stets Wahrnehmung, Verständnis, Wortschatz und den Umgang mit dem Ausdruck. Was Lyrik kann? Sehr viel.

Wir können sie lesen.
 

Timo Brandt
Timo Brandt

Die »Poesie. Meditationen« werden Ihnen von Timo Brandt (Jahrgang 1992) präsentiert. Er studiert derzeit an der Universität für angewandte Kunst in Wien, am Institut für Sprachkunst. Er schreibt Lyrik und Essays, außerdem veröffentlicht er Literatur-Rezensionen auf seinem Blog lyrikpoemversgedicht.wordpress.com, Babelsprech.org und Amazon. 2013 war er Preisträger beim Treffen junger Autoren.

Alle bereits erschienenen Folgen der »Poesie. Meditationen« finden Sie hier.

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