ein Bericht von Jan-Eike Hornauer (Text und Fotos)
Weßling-Hochstadt. »Essen & Trinken« war das Thema des 8. Lyrikstiers – und dem Publikum wurde ein äußerst abwechslungsreiches Drei-Gänge-Menü geboten, das ihm augen- und ohrenscheinlich sehr mundete. Den ersten Gang servierten die drei Mentoren, die die Wettbewerbsteilnehmer am Abend selbst sowie im begleitenden Seminar betreuten. Den Hauptgang stellte der eigentliche Stier-Wettbewerb dar, in dem 24 Poetinnen und Poeten aus Deutschland, Frankreich, Italien und der Schweiz gegeneinander antraten. Und den dritten Gang reichten die drei Jurymitglieder des Wettbewerbs.
In sich rund, nuancenreich und eher leicht- als schwerverdaulich
30 lyrische Happen wurden also gereicht, und sie zusammen bildeten ein in sich rundes Menü, das ganz sicher auch für jeden der Zuhörer je besonders schmackhafte Nuancen bereithielt, vom lockeren Paarreimgedicht im Busch-Stil bis hin zum gesellschaftskritisch-ernsten Prosaversverbund alles umfasste und freilich das Wortspielerisch-erotisch-Sinnliche auch großzügig enthielt. Der Schwerpunkt lag insgesamt klar und dem Thema durchaus angemessen auf leichter Verdaulichem als auf der, von Form und Inhalt her, schweren Kost.
»Hätten doppelt so viele Karten verkaufen können«
Bemerkenswert: Wie viel Publikum der Lyrikhunger ins kleine Hochstadt getrieben hatte. Der Saal des Gasthofs Schuster war bis auf den letzten Platz besetzt, rund 140 Gäste lauschten hier den Vorträgen. »Und wir hätten heuer bald doppelt so viele Karten verkaufen können«, erklärte Anton G. Leitner, dessen Verlag den Lyrikstier gemeinsam mit dem Gasthof Schuster ausrichtete.
Der erste Gang: Zaplin, Leitner, Dreppec
Den ersten Gang und somit das Gesamtmenü eröffnete Sabine Zaplin. Die Schriftstellerin und Kulturjournalistin rezitierte gekonnt einige ausgesuchte Gedichte aus der aktuellen DAS GEDICHT-Ausgabe »Götterspeise & Satansbraten«, lieh damit anderen Autoren ihre Stimme. Nostalgisch-erotische Kindheitserinnerungen (»Limonade« von Hellmuth Opitz), scharfe Globalgesellschaftskritik (»farbiges zur welternährungslage« von Gerhard Rühm) und Komisch-Pointiertes, das die Zuhörer vielfach laut auflachen ließ (»Veganer unser« von Matthias Kröner und Michael Augustins ei-genwilliger Dreizeiler »Familientreffen«) brachte Zaplin unter anderem.
Bayrische Kost gab’s bei Anton G. Leitner, der, als hochdeutscher Lyriker längst profiliert, neuerdings auch gerne mal Verse in seiner Muttersprache verfasst. Um angereiste oder zugezogene Zuhörer nicht zu überfordern, reichte er dazu meist auch gleich die Duden-deutschen Übersetzungen nach. Klar, dass es bei Leitner auch mal derber zur Sache ging – als er etwa sein »dunkles Andechser Gefühl« beschrieb und schloss »im Rausch sehe ich Engel kotzen« –, doch besonders wichtig war ihm offenkundig ein sehr zarter Text zur aktuellen Flüchtlingsthematik, in dem es um eine sich anbahnende Freundschaft zwischen Geflohenen und einem Einheimischen geht und in dem sich so auch ein »Kleines Reiseerlebnis für einen passionierten Stubenhocker« ergibt – der sich nun freut, dass er gar nicht selbst hinaus in die Welt muss, weil diese zu ihm kommt. Dass diese gelungenen Verse mit besonders starkem Applaus bedacht wurden, lag gewiss auch an ihrer Botschaft und der spürbaren Leidenschaft des Vortrags.
Den ersten Gang beschloss dann Alex Dreppec, der ungekrönte, doch vielfach ausgerufene König des Stabreims, mit für ihn typischen sprachartistisch ausgefeilten humoristischen Versen, in denen er verschiedene Traumata seines Lebens (u. a. Psychologiestudium und Diäten) lustvoll ver- und das »Themenfeld Tomaten« bearbeitete sowie freimütig, wenn auch vielleicht etwas verfrüht bekannte: »Das Osterei ist ein gefundenes Fressen«. Dass nicht nur seine Texte hohe Sprachkunst erfordern, sondern der Vortrag seiner oftmals hals- und zungenbrecherischen Gedichte dies nicht minder tut, steht außer Frage. Souverän eroberte er auf beiden Ebenen das Publikum.
Der zweite Gang: Wettstreit um den Lyrikstier
Und dieses hatte nun so richtig Appetit auf mehr. Der zweite Gang konnte aufgetischt werden, der Lyrikstier-Wettkampf beginnen! Alle 24 Kandidaten gaben nun je ein Gedicht aus dem Bereich »Essen & Trinken« zum Besten. Auffallend goutiert vom Publikum wurde als erstes »Zum Fresse« von Michael Bauer (Herxheim), das letztlich auch den dritten Platz bei Publikumspreis erhalten sollte. Humorvoll und in seinem Heimatdialekt rhythmisch-gereimt bittet Bauer hier um die Gunst seiner Angebeteten, fordert unter anderem »Sei mei Seeleschokolad!« und betont: »Du tuscht meine Glieder gut / Wie zwää große Steaks.«
Ein stilles Gedicht, das sofort aufhorchen ließ, war »Moosmuscheln. Suppe« von Babette Werth (Berlin), die dafür auch mit dem Jurypreis bedacht werden sollte. Schlussmetapher, Themenvariation und Genauigkeit der Beobachtung haben das Gedicht, in dem nichts anderes geschieht, als dass eine Suppe gegessen wird, laut Juryvorsitzendem Erich Jooß so preiswürdig gemacht. Und in der Tat: Starke innovative Bilder tragen dieses sprachlich und perspektivisch fein gearbeitete Lyrikstück auf bemerkenswerte Art. »Feine Wellen, die langsam im tiefen Teller / abebben, künstliche Gezeiten«, sind hier am Anfang noch zu erleben, doch dann, am Ende, »Tauchen Hände // in die Untiefen weißer Servietten, suchen im Tuch Schutz« und im Teller sind nur noch »Leere // Schalen, verlassen auf Grund«.
Erotisch, derb und lustig wurde es sofort wieder mit »Die Liebe geht durch« von Babette Dieterich (Stuttgart). »Stopf mich / stöhnt das Cordon bleu« heißt es da etwa, oder »Zieh mich rein / befielt das Tiramisu // Ich gehorche im Nu«. Eine klare, direkte Verssprache, effektvolle Bilder, gezielt eingesprengte Reime und eine auffällig souveräne Vortragsweise – Dieterich überzeugte mit ihrem anzüglich-heiteren Gedicht das Publikum so sehr, dass sie von ihm nicht nur mit ausgeprägtem Applaus bedacht wurde, sondern im Votum hernach auch den ersten Platz (Publikumspreis) zugesprochen bekam. Und die Jury zeigte sich ebenfalls beeindruckt: Sie bedachte Dieterich mit dem Sonderpreis vom Magazin »Bayerns Bestes«.
Dass das Unmittelbare und Heitere das vom Publikum letztlich Präferierte war, wenngleich auch für manch nachdenkliche und verschnörkeltere Verse ordentlich geklatscht wurde, macht der letzte Publikumspreisträger endgültig klar: Den zweiten Platz errang hier Leni Gwinner (Widdersberg / Herrsching) mit ihrem »Lebkuchen Rock ’n‘ Roll«. In ihm wird die sexuelle Annäherung und Paarung zweier Lebkuchen (Nikolaus und Engelchen) thematisiert, die sich, am Weihnachtsbaum hängend, entdecken und … nun ja, sehr explizit beflecken (»bis Engelchen flatternd orgasmiert. / Dann Nikolaus glitzernd ejakuliert«). Ein Text, das muss kritisch eingewandt werden, der quasi als hemmungslose Slam-Poetry-Nummer offenkundig sehr gut funktioniert, aber nicht zwingend in Schriftform näher betrachtet werden sollte, weil dann erzwungene Satzumstellungen, rhythmische Fragwürdigkeiten und zweifelhafte Reime doch zu sehr ins Auge stechen.
Was passiert, wenn Klischee-Poesie und angestaubter B-Movie aufeinandertreffen und sich zu völlig Neuem verbinden, hat Leander Beil (München) in Verse gefasst – und mit seinem titellosen Poem sowohl seine Mitstreiter um den Lyrikstier überzeugt (Teilnehmerpreis) als auch die Jury angesprochen (zweiter Platz Jurypreis). Dass der Held des Gedichts der 80er-Jahre-Actionstar Chuck Norris ist und der junge Dichter (Jahrgang ‘92) seine Kollegen im Seminar erst einmal über diesen ihnen zumeist völlig unbekannten Protagonisten aufklären musste, wie er im Zuge des Siegervortrags seines Gedichts nach der Wahl eingestand, das freilich bleibt eine Köstlichkeit am Rande. Auch weil man eben Chuck Norris gar nicht kennen muss, um das Gedicht zu genießen, das so beginnt: »Chuck Norris weiß, / wo in Schnapsflaschen Birnen / an den Bäumen wachsen.« In dem es dann weiter heißt: »Also warten wir an diesem alten Bahnhof, / sprachlos verloren, wo der Rost mehr / über Zeit sagt als die blinden Uhren.« Und das so endet: »Die Birnen leuchten / an den Bäumen / und ich mache das Licht / aus.« Die Jury hob besonders die originellen Bilder hervor sowie die plötzliche Schlusswendung des Gedichts hin zum Autor, die so, in dieser natürlichen und nicht auf einen Gag abgezielten Form, sehr selten sei. Die großen textlichen Qualitäten seines Gedichts setzte Beil dabei, das sei auch angemerkt, in einen herausragend gelungenen Vortrag um, den unter anderem ein positiv auffallender Mut zur Pause prägte.
Ausgewogenheit durch Publikums-, Jury- und Teilnehmervotum
Das also waren die ausgezeichneten Lyrik-Happen des zweiten Gangs. Neben ihnen war freilich vieles Weiteres geboten, das hervorragend oder zumindest angenehm mundete. Und nur ganz Weniges war darunter, was man vielleicht lieber am Tellerrand abgelegt als heruntergeschluckt hätte. Insgesamt ein auffallend guter Häppchen-Mix, in seiner Gesamtheit sowie in seinen einzelnen Bestandteilen!
Aber, die Frage muss, wie bei jedem Wettbewerb, erlaubt sein: Bleibt da nicht ein Nachgeschmack, wurde nicht das Falsche gewürdigt und das Richtige übergangen? Nun, darüber mag man streiten, wie bei jedem Wettbewerb, bei dem es nicht um klar messbare Ergebnisse geht. Doch ist schon zu attestieren: Alle Auszeichnungen sind nachvollziehbar. Mag man auch aus je individueller Sicht die einen etwas mehr und die anderen etwas weniger goutieren. Und sicherlich gab es auch durchaus preiswürdige Gedichte, die unverdientermaßen vollkommen leer ausgegangen sind (wo ist das schon anders, erst recht wenn viel Qualität zusammentrifft?). Doch es bleibt festzuhalten: Dass der »Hochstadter Stier«, ursprünglich als reiner Publikumswettbewerb gestartet, in seiner achten Auflage nun gar neben einem Jury- auch noch ein Teilnehmervotum berücksichtigt, sorgt für eine gute Ausgewogenheit. So hat das Effektgedicht zwar in der einen Kategorie bessere Chancen und die fein geschliffenen Verse kommen eher in der anderen Kategorie zum Zuge etc., aber es hat doch jede Gedichtform ihre echte Chance.
Der dritte Gang: Arzenheimer, Jooß, Eggers
Kommen wir nun zur Nachspeise, zum dritten Gang: Hier servierten die Juroren Selbstzubereitetes. Stark wortspielerische und oftmals sehr knapp gehaltene Lyrikstücke präsentierte Melanie Arzenheimer, ihres Zeichens die Siegerin des ersten Stierwettbewerbs (2009) und Redakteurin bei »Bayerns Bestes«. Bei ihr wurde »Glühweinen« zur »Mannschaftsdisziplin«, dass es »Kartoffelbrei statt Kaviar« gab, lag am »Liebeskummer der Kassiererin« und der Cowboy überlebte nur, weil: »Der Indianer ist Veganer.« Lacher folgte auf Lacher im Publikum, und Arzenheimer hatte sichtlich Freude am Vortrag. Ein Nachspeisenauftakt, der nichts zu wünschen übrig ließ – ganz anders als die von Arzenheimer final monierte »geviertelte Erbse im Wasabi-Mantel«, die sie verständlicherweise als wenig befriedigend empfunden hatte.
Nachdenkliche, ruhige, ungebundene Lyrik-Kreationen reichte anschließend Erich Jooß, Präsident der Turnschreiber und Juryvorsitzender. Seine sensiblen, sprachlich präzise gearbeiteten Alltagsbeobachtungen aus der Jetzt- und früherer Zeit zogen rasch in ihren Bann und brachten die Stimmung im Saal auf eine angenehme Temperatur herab. »Bevor es zu spät ist für uns, steht die Liebe auf und geht«, hieß es bei ihm zum Beispiel. Oder: »Der Kaffee steht schwarz und kalt in seiner Tasse.« Und: »Der Sprung ins Gesicht hilft nicht mehr.« Ruhig, ausdrucksstark, versöhnlich melancholisch, zuweilen auch leicht nostalgisch – so lassen sich die dargebotenen Verse von Jooß umschreiben, in denen es um sehr viel, letztlich das ganze Leben (dabei aus der Perspektive des Einzelnen) ging, und die auch saure Kutteln und hungrige Herzen zusammenzubringen wussten.
Einen fulminanten Abschluss bot Georg »Grög« Eggers. Nicht zufällig war sein Beitrag als Performance angekündigt. Ruhig am Rednerpult zu stehen ist die Sache dieses Verskabarettisten bekanntermaßen nicht. Mit vollem Körpereinsatz, wunderbar raumgreifend und rhythmisch mit Kochlöffelklopfen unterlegt brachte er seinen »Kochshow-Hiphop«. Was dann sein soll? Nun, zunächst einmal eine, wie Eggers selber freimütig bekennt, Anbiederung ans Publikum. Denn, so erklärte er, es gibt heutzutage im Grunde nur zwei sinnliche Formate: vor der Pubertät den Hiphop, nach ihr die Kochshow. Beides zusammenzubringen bedeutet demzufolge den ultimativen Volltreffer hinsichtlich des Gesamtpublikumsgeschmacks. Und beides zusammenzubringen ist nach Eggers auch gar nicht so schwierig, da beides doch einen gemeinsamen Grundcharakter aufweist (nämlich das Pornographische). Das also erläuterte Grög, und dann legte er los, rappte mit vollem Körpereinsatz zu seinem Kochlöffelrhythmus und riss die Zuschauer unter dem Motto »Am Herd ist es hart« vollkommen mit sich. Und selbst manch herbe Volten dessen, der da betonte »Alter, ich steh krass weit hinten in der Nahrungskette!«, wie etwa die Drohung an ein Reh (»Ich spicke deine Mutter!«), sorgten zwar für einigermaßen fassungslose Kommentare im Publikum wie »Och nö, ne?«, zugleich gab’s aber ausuferndes Gelächter während der ganzen Darbietung – und donnernden Schlussapplaus, selbst von den zuvor zuweilen Fassungslosen.
Der Stier hatte sein würdiges Ende gefunden, ein schmackhaftes Menü seinen glanzvoll-explosiven Abschluss. Und vollkommen gesättigt und zufrieden konnte es nun nach draußen gehen – zur Zigarette danach oder einfach nur an die frische Luft.