Jubiläumsblog. Ein Vierteljahrhundert DAS GEDICHT
Folge 1: David Westphal – Der Mensch hinter dem Dichter

Seit 25 Jahren begleitet die Zeitschrift DAS GEDICHT kontinuierlich die Entwicklung der zeitgenössischen Lyrik. Bis heute ediert sie ihr Gründer und Verleger Anton G. Leitner mit wechselnden Mitherausgebern wie Friedrich Ani, Kerstin Hensel, Fitzgerald Kusz und Matthias Politycki. Am 25. Oktober 2017 lädt DAS GEDICHT zu einer öffentlichen Geburtstagslesung mit 60 Poeten aus vier Generationen und zwölf Nationen ins Literaturhaus München ein. In ihrer Porträtreihe stellt Jubiläumsbloggerin Franziska Röchter jeden Tag die Teilnehmer dieser Veranstaltung vor.

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen.

David Westphal durfte den Anton G. Leitner Verlag bereits sehr intensiv kennenlernen. Er begeisterte als junger Herausgeber in der Reihe Poesie 21 und philosophiert im nachfolgenden Gespräch mit Franziska Röchter über Raum und Zeit und über das persönliche Glück in gesellschaftlichen Zusammenhängen.

Zeit und Raum und das persönliche Glück

Lieber David, wenn man deinen Nachnamen sieht, möchte man meinen, du hättest Wurzeln in Westfalen?

Mich persönlich verbindet bisher nichts mit Westfalen. Geerbt habe ich den Namen von meinem Großvater mütterlicherseits. Er und seine Familie kamen, vertrieben aus Stolp in Hinterpommern, nach Bayern. Ich durfte einige schöne Jahre mit ihm verbringen, aber mein Alter, ab dem mich solche Fragen brennend interessiert haben, hat er leider verpasst. Deshalb wird mein Wissen über die Zeit vor meinen Großeltern sehr dünn. Mit meiner Omi, die aus Niederschlesien stammt, rede ich noch immer gern über ihr Leben und ihre Herkunft. Sie ist nicht nur gesprächiger als mein Großvater, sondern kann mir auch heute noch davon erzählen. Das ist ein Geschenk.

Du studierst neben Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie auch Philosophie. Auf welchem dieser Fächer liegt dein Schwerpunkt und was war der Hauptgrund für dich, Philosophie zu wählen?

Im Grunde finde ich diese begriffliche Trennung schlicht albern. Fragen lassen sich nicht in Fächer gießen. Die Fragen, die ich am interessantesten finde, würde man wohl als philosophisch bezeichnen. Ich kann nicht einmal genau sagen, wann ich damit begonnen habe, zu sagen, dass ich Philosophie studieren möchte, aber für mich stand irgendwann fest: Philosophie ist das Fach, in dem jede Frage erlaubt ist und es keine Denkverbote gibt; das sich außerdem mit grundsätzlichen Fragen beschäftigt. Darin habe ich mich wiedergefunden – aber davon ist an Universitäten leider wenig auffindbar.

Ich war jedes Mal davon fasziniert, wie sehr mein Wissen über das, was ich nicht weiß, gewachsen ist.

Zu welchen neuen Erkenntnissen im Hinblick auf Kunst oder Wahrheit bist du durch dein Studium gekommen?

Bisher nehme ich ziemlich genau eine Erkenntnis mit und sie klingt auch noch nach Philosophenkitsch: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Egal, in welche Richtung ich meine Fühler bisher ausgestreckt habe, ich war jedes Mal davon fasziniert, wie sehr mein Wissen über das, was ich nicht weiß, gewachsen ist. Das ist aber keineswegs ein Grund, mit dem Philosophieren und Forschen aufzuhören! Sonst hätten wir es auch mit Sokrates bewenden lassen können. Die Frage ist, wie wir damit umgehen. Wie könnte eine Philosophie des Nichtwissens aussehen? Für mich kommt an dieser Stelle ein künstlerisches Moment mit hinein.

Gibt uns die Philosophie in der heutigen Gesellschaft Antworten auf zwei der »großen« Kantischen Fragestellungen, »Was soll ich tun? « und »Was darf ich hoffen?«? Sind die Menschen heute nicht orientierungsloser denn je?

So wie ich die Philosophie begreife, ist sie nicht in der Lage, die Kantischen Hausaufgaben zu beantworten – nicht in der Vergangenheit, nicht in der Gegenwart und auch nicht zukünftig. Ihre Stärke liegt darin, keine Frage als unzeitgemäß zu erachten und keine Antwort final zu akzeptieren. Philosophen haben zwar scheinbar stets versucht, Letztbegründungen zu liefern, aber Kant hat selbst gesagt, wer seine Philosophie nur nachbetet, philosophiert nicht. Wer also von der Philosophie profitieren möchte, der sollte nicht auf Antworten von ihr warten, sondern an ihr teilhaben, die Verhandlung und den Konflikt aufnehmen. Auch daraus ergeben sich keine Antworten, aber viele Lösungen. Falls der heutige Mensch tatsächlich orientierungsloser denn je ist, dann ist der Schritt zu seiner Emanzipation trotzdem nie groß gewesen; der erste Schritt dazu bleibt bekanntermaßen der schwierigste.

David Westphal. Foto: privat
David Westphal. Foto: privat

Wie hältst du als philosophierender Mensch es mit der Religion oder dem Glauben? Finden wir da noch Antworten?

Religion und Philosophie haben viel gemeinsam, denn ein nicht geringer Teil bezieht sich auf Spekulationen, die auf die eine oder andere Weise mit Erfahrungswissen angereichert werden. Wo die Religion aber immer und immer wieder auf den unbezweifelbaren Ursprung, das Göttliche, verweisen muss, darf die Philosophie auch einfach mal den Mittelfinger in die Höhe strecken. Wer glauben möchte, wer diese tiefe, mystische Verbindung spürt, dem möchte ich das nicht nehmen. Aber bei dem Versuch, dieses private Gefühl zu verabsolutieren, steigt mein Puls – nicht nur bei religiösem Glauben.

Wer schön sein will, muss leiden.

Du beschäftigst dich im Rahmen des Tübinger Studienkollegs 2016/17 des FORUM SCIENTIARUM mit dem Thema »Raum und Zeit«. Könnte Einsteins Theorie über die Zeit bei hohen (Licht-)Geschwindigkeiten nicht auch im Hinblick auf Alterungsprozesse interessant sein?

Ich befürchte, niemand sollte sich bezüglich des Alterns irgendwelche Vorteile erhoffen. Denn wäre man erst einmal nahe Lichtgeschwindigkeit beschleunigt, würde man keinen Unterschied spüren. Noch schlimmer: Wenn man nicht rechtzeitig die Bremse während dieses Highspeedtrips zöge, dann wären im Handumdrehen alle Menschen, die man jemals gekannt hat, tot – und die Falten kämen trotzdem. Ich empfehle, sich die Haut abzuziehen, dann gibt es kaum äußerliche Anzeichen und man kann bis zuletzt an der 25 festhalten! Im Gegensatz zum Reisen in Lichtgeschwindigkeit ist diese Methode effektiver und in naher Zukunft individuell realisierbar, nur eben etwas schmerzhaft und das Infektionsrisiko steigt. Wer schön sein will, muss leiden.

In dem Zusammenhang fällt einem auch das Stichwort »Entschleunigung« ein. Ist das nicht bald ein überstrapazierter Modebegriff?

Und wie dieser Begriff überstrapaziert ist! Trotzdem verstehe ich das Anliegen dahinter gut. Jeder weiß, wie es sich anfühlt, wenn man aus irgendwelchen Gründen knapp dran ist und befürchtet, seinen Zug zu verpassen. Das ist richtig unangenehmer Stress, man hastet, man rennt, man spürt schon die Verzweiflung, die in einem aufkeimen könnte, wenn man den Zug verpassen würde, ohne dass man ihn schon verpasst hätte. Und das ist ein vollkommen banales Beispiel, in der Regel hängt von einem verpassten Zug nicht viel ab. Wenn das zum Grundton eines Lebens wird, dann ist Entschleunigung angebracht. Dafür gibt es natürlich Bücher, Trainings, Coaches und Seminare. Ein Glück ist das nicht. Denn statt sich einen Ferrari zuzulegen, um den Zug nicht mehr zu verpassen, wäre es doch beruhigender, die Gründe für das Zuspätsein zu überwinden. Diese Schieflage – die Assimilation der Entschleunigung in den Beschleunigungsprozess – macht den Begriff für mich zu einem überstrapazierten. So würde ich auch die Angst vor dem Altern und die Maßnahmen gegen das Altern einstufen.

Ansonsten musste ich mich nicht groß verbiegen.

Wie bist du 2013 dazu gekommen, Redaktionsassistent bei DAS GEDICHT zu werden?

Das war im Rahmen eines zweimonatigen Pflichtpraktikums; so was gibt es heute in der Philosophie tatsächlich, ich war auch überrascht. Über das Ergebnis bin ich indessen sehr froh! Die Wochen danach und davor waren aber extrem voll, da hätte ich dringend Entschleunigung gebraucht. Ansonsten musste ich mich nicht groß verbiegen. Ich habe eine ehrliche und saubere Bewerbung geschrieben, Anton und ich haben uns sehr gut verstanden, und dann hatte ich den Job. Zuvor wurde noch in einem Telefonat sanft abgetastet, ob ich nicht doch nur meine eigenen Gedichte an den Mann bringen will. Das wollte ich nicht. Was ich wollte, war ein Praktikum, bei dem ich meinen Interessen am besten ihren Lauf lassen kann und viel dazulerne. Insofern ein voller Erfolg und eine gute Zeit!

Wie kam es dazu, 2014 gleich einen eigenen Poesie 21-Band mit dem Titel »Komm in meinen Maulwurfshügel. Lust & Frust-Gedichte« herauszugeben?

Wenn ich das nur wüsste! Als mir Anton das Vorhaben unterbreitete, wusste ich erst nichts mit der Information anzufangen. Ich saß da, willig alles zu tun, was man mir aufträgt, und brachte nur ein schlichtes »Ja« heraus. Bis ich realisiert hatte, dass ich da jetzt ein Buch herausbringen sollte, hat es etwas gedauert. Ich hatte aber ab der ersten Minute einen Riesenspaß daran! Begonnen habe ich damit schon unter subtiler Beobachtung während meines Praktikums, beendet habe ich das Projekt erst danach. Anton war offenbar sehr zufrieden mit meiner Arbeit, denn er hat nichts beanstandet – und ich schätze sehr an ihm, dass er ehrlich sagt, was ihm nicht passt. Die einzige Unstimmigkeit gab es beim Text für die Rückseite. Man merkt es vielleicht: Ich mag drastische Formulierungen. Da bin ich zu fest auf das Gaspedal getreten. Wie aber Anton auf die wahnwitzige Idee kam, eine Anthologie in meine ungeübten Hände zu legen, habe ich ihn nie gefragt. Dass der Band am Ende sehr schön geworden ist, war zwar ein wenig mein Verdienst, aber mehr noch der Verdienst der guten Einsendungen von Dichterinnen und Dichtern. Das hat alles einfacher gemacht!

In deinem Gedicht »Schnapsidee«, 2015 in DAS GEDICHT 23 veröffentlicht, thematisierst du auch dein Studienfach. Dass ein Philosoph Lyriker ist, ist womöglich nicht die Regel, aber sind nicht alle Dichter irgendwie Philosophen?

Auf keinen Fall sind alle Dichter Philosophen. Aber die Dichtung und die Philosophie haben eine eigentümliche Nähe zueinander, unabhängig von den Themen, die traktiert werden. Ich bin keineswegs der Erste, der das in aller Offenheit feststellt. Manche Dichter und viele Philosophen vergessen das leider viel zu häufig.

Du hattest mir ein Gedicht aus 2016 geschickt, welches du zusammen mit einer zweiten Person geschrieben hast. Wie schreibt man zu zweit ein Gedicht?

Das ist ein Hobby von mir: gemeinsame Gelegenheitsgedichte schreiben. Häufig kommt Quark dabei heraus, aber manchmal entsteht auch ein Funkeln und Sprühen. Dafür habe ich fast immer mein Notizbuch bei mir. Zunächst ist das eher eine Art Gesellschaftsspiel, es gibt immer was zu lachen, zu denken, zu ekeln oder zu träumen. Der Standard ist, sich mit den Strophen abzuwechseln, aber es ist alles Mögliche möglich. Nicht ganz zwanglos – manch einen muss man etwas schubsen und schieben – aber ohne Anspruch, etwas Weltbewegendes zu kreieren. Letztlich hat jeder etwas zu sagen und zu erdichten! Ich habe nie recherchiert, wie man Poesiealben, die viele noch aus ihrer Kindheit kennen, früher geführt hat, zu einer Zeit, als der Name entstanden ist. Das ist meine Version davon.

Wie geht es für dich nach deinem Masterabschluss weiter? Hast du konkrete Pläne?

Ich möchte im Großen und Ganzen so weiter machen, wie bisher: mich wissenschaftlich und künstlerisch betätigen. Das ist ein riesiger Rahmen, in dem viel möglich ist. Das Naheliegendste wäre eine Promotion. Wir haben schon über die Nähe zwischen Kunst und Philosophie gesprochen. Das fesselt mich seit Beginn meines Studiums. In meiner ersten Arbeit während des Bachelors erschien es mir ganz natürlich, eine selbstverfasste literarische Passage als Argument einzubringen. Ich habe schnell bemerkt, wie wenig selbstverständlich das ist. Nietzsche hat in seiner fröhlichen Wissenschaft einmal den »Künstler-Philosophen« beschworen. Das ist für mich eine Art Idealtypus. Es ist nur nicht so einfach, an dieser Schnittstelle Doktoreltern und Finanzierungsmöglichkeiten zu finden. Es ist die Nische zwischen den Nischen. Konkret ist vermutlich etwas anderes.

Das persönliche Glück versöhnt Ego und Welt.

Zum Abschluss: Was bedeutet für dich persönlich Glück? Was ist für dich ein »gelingendes« Leben?

Ein gelungenes Leben hinterlässt möglichst wenig Schaden in der Welt. Das ist kein Aufruf zur lethargischen Kontemplation: Wo gefeilt wird, fallen Späne. Aber wenigstens sollte man einen weiten Blick haben, wenn man überhaupt mit dem Feilen beginnt. Die Befriedigung kurzfristiger Interessen ist selten eine Lösung,
sondern verschärft oft Konflikte an anderer Stelle. Jeder von uns ist ein Mensch unter Menschen, mit Freunden, Familien, Kulturen in einer zusammenhängenden Weltbevölkerung; darum kann es kein gelingendes Leben mit Scheuklappen geben. Entscheidungen in dieser Richtung sind aber viel zu häufig nur schwer vereinbar mit persönlichen Bedürfnissen. Ständig will man irgendwas, braucht dieses und jenes, ist unzufrieden und auf lange Sicht blickt jedem ganz persönlich und unausweichlich der Tod entgegen. Das persönliche Glück, so wie ich es verstehe, ist irgendwo dazwischen und versöhnt Ego und Welt, führt sie zu einem Gesamtwerk, das von meinen Hinterbliebenen gefeiert werden möchte. Um das zu realisieren, benötige ich vor allem eines: Zeit und Raum.

Lieber David, herzlichen Dank für dieses interessante Gespräch!
 

David Westphal (Hrsg.): Komm in meinen MaulwurfshügelDavid Westphal (Hrsg.)
Komm in meinen Maulwurfshügel
 

Lust & Frust. Gedichte
86 Seiten, Broschur
€ 12,80 [D] August 2014
ISBN 978-3-943599-20-6

 

Franziska Röchter. Foto: Volker Derlath

Unser »Jubiläumsblog #25« wird Ihnen von Franziska Röchter präsentiert. Die deutsche Autorin mit österreichischen Wurzeln arbeitet in den Bereichen Poesie, Prosa und Kulturjournalismus. Daneben organisiert sie Lesungen und Veranstaltungen. Im Jahr 2012 gründete Röchter den chiliverlag in Verl (NRW). Von ihr erschienen mehrere Gedichtbände, u. a. »hummeln im hintern«. Ihr letzer Lyrikband mit dem Titel »am puls« erschien 2015 im Geest-Verlag. 2011 gewann sie den Lyrikpreis »Hochstadter Stier«. Sie war außerdem Finalistin bei diversen Poetry-Slams und ist im Vorstand der Gesellschaft für
zeitgenössische Lyrik. Franziska Röchter betreute bereits 2012 an dieser Stelle den Jubiläumsblog anlässlich des »Internationalen Gipfeltreffens der Poesie« zum 20. Geburtstag von DAS GEDICHT.


Die »Internationale Jubiläumslesung mit 60 Poetinnen und Poeten« zur Premiere des 25. Jahrgangs von DAS GEDICHT (»Religion im Gedicht«) ist eine Veranstaltung von Anton G. Leitner Verlag | DAS GEDICHT in Zusammenarbeit mit dem Kulturreferat der Landeshauptstadt München. Mit Unterstützung der Stiftung Literaturhaus. Medienpartner: Bayern 2.

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