Der Kuss der Morgenröte: Zur poetischen Bild-Kunst von Johannes Kühn

von Oliver Ruf

Man kennt Johannes Kühn im Alten Schloss Dillingen, ein mittelalterliches Schmuckstück, das hier, nahe des Hüttenwerkes und damit in der Nähe von Roheisenproduktion und Grobblechherstellung wie eine Insel im Meer der saarländischen Industriekultur erscheint. Die Gäste sind noch nicht alle anwesend, doch immer mehr Eingeladene füllen die festlichen Räume, worüber der an diesem Tag zu Ehrende wie jedes Mal, wenn ihm eine solche Ehrung wiederfährt, geradezu ungläubig staunen muss. Sein 80. Geburtstag soll begangen werden und gleichzeitig eine Ausstellung mit seinen Zeichnungen eröffnet werden: Ausgerechnet Zeichnungen! Dabei ist er doch einer der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker der Gegenwart. Dass dies aber kein Zufall, sondern eine viel sagende Konsequenz bedeutet, das wird sich in den nächsten Stunden erweisen, wenn der Künstler Francis Berrar, der die Schau kuratiert hat, in sein zeichnerisches Werk einführt und ebenso, wenn Ulrich Commerçon, Minister für Bildung und Kultur im Bundesland Saarland, das Grußwort spricht. Der Zusammenhang zwischen dem bildenden oder besser: dem bildnerischen Künstler und dem lyrischen Autor, dem Dichter Johannes Kühn wird ebenfalls Thema meiner eigenen Festrede auf ihn sein, der ich den Titel »Die Kraft der Bilder« gegeben habe.

Gleichwohl dieses Ereignis mittlerweile bereits über ein Jahr zurück liegt (es hat am 09. Februar 2014 stattgefunden), ist es ein guter Anlass, einen tragenden Aspekt im Schaffen von Johannes Kühn einmal mehr zu unterstreichen. Denn die Erfahrung des Geschehenen – das Schloss mitten in der industriellen Bebauung, das gleichsam märchenhafte Schloss mitsamt des hübsch bepflanzten Schlossgartens, dann die Filzstiftzeichnungen des Lyrikers an den Wänden, die Bildersprache, die von ihnen ausgeht, der Jubilar selbst, der aus Dank und Demut einige Zeilen, Verse an die Gekommenen in dem ihm eigenen, dankenden und demütigen Tonfall richtet – all das durchstößt auf eine eigentümliche, ja subjektive und mithin subtile Weise auch den jüngsten Gedichte-Band von Johannes Kühn, der »Und hab am Gras mein Leben gemessen« heißt und der (wie fast alle seiner Bücher) im Münchner Hanser-Verlag erschienen ist. Der lange Weg durch eine langsam, aber zugleich unaufhaltsam durch Technik und Technologie, letztendlich durch den/die Menschen mindestens bedrohte Natur, deren bildgewaltige Huldigung und das Bekenntnis zu einer bedingungslosen Hingabe zu ihr sind die großen Themen, die darin als Schicksal eines Natur beseelten Spaziergängers ausformuliert werden.

Johannes Kühn, am 03. Februar 1934 in Bergweiler in der Gemeinde Tholey als Sohn einer Bergarbeiterfamilie geboren, aufgewachsen mit acht Geschwistern im Dorf Hasborn, das nach wie vor seine Heimat bedeutet, ist ein Begeisterter, ein Begeisterung aufs Tiefste Verspürender, der jedoch seinerseits nicht immer, d.h. viel zu lange, und viel zu häufig viel zu wenig Begeisterung für sein dichterisches Tun verspüren durfte. Man weiß um das Unglück in seinem Leben, als er seelisch erkrankte, dass ihm weder ein Wort aus der Feder noch eines auf die Zunge kam, und er nur durch die Hilfe seiner Lebens-Freunde Irmgard und Benno Rech wieder zurück zur Sprache fand (dank ihnen wurde außerdem für uns alle sein Œuvre überhaupt erst bekannt und schließlich beeindruckend gewürdigt).

Ein roter Faden, der sich über die Seiten der bis dato über 20 Lyrik-Bände legt, ist dieses Begeistert-Sein, das Schwärmen und die Schönheit, die Johannes Kühn um uns herum immer wieder begeistert, schwärmend, ästhetisch erfährt: »Wie viele Lippenstifte hat die Morgenröte wohl verwendet, / ich will sie nicht zählen, / so rot ist ihr Mund, / sie flüstert in Erregungen voll Liebe.« Kleine und kleinste Regungen vernimmt das lyrische Ich (um einen älteren Begriff zu verwenden), »Windzischen« ist darunter, »hohe[r] Sonnengipfel« oder »nur Märzhauch«. Das Gespür für Sonnenstrahlen, frischen Wind, für Heureife, »Finkentrubel im Heckeneck« – das sind empfindsame Symphonien des Umgebenden, die Johannes Kühn in seinen Gedichten komponiert, arrangiert und herauf entsinnt (»Ich geh zum Standbild der Erinnerungen«).

Ich lernte ihn vor über einem Jahrzehnt kennen, hörte von ihm erst in der Schule, hörte ihn dann auf Lesungen, sprach mit ihm schließlich in einem seiner Stammlokale über das Schreiben, über sein Arbeitspensum und seine Intuition. Aufgewachsen in derselben Landschaft, fast im selben Dorf galt mir Johannes Kühn immer schon als derjenige, der zu sagen, der zu bedichten vermag, was sich hinter (auch gemeinsamen) Lebensräumen verbergen mag: »Den langgezogenen Hügel wie einen Tisch seh ich und ahn, / die Landgeister Wind und Wärme / feiern beim Glockenfall / unterm Lichte groß Versöhnung. / Ich will hören, / was sie flüstern / und heb den Stock / und wandre zu ihnen näher hin.«

Das Verhältnis zur Natur, die Annäherung an sie ist, wie Johannes Kühn es im Gedicht »Kalter Mai« formuliert, »zerscherbt«, d.h. sie fällt ihm aus den Händen, jedoch nicht ganz, nur beinah, weil er hinausgeht, um Sterne zu finden und Waldblumen, die ihre Farben »pinseln«. So geht von Johannes Kühns Worten ein ganz persönlicher Zauber aus; er bleibt, wie Irmgard und Benno Rech als Herausgeber in ihrem Nachwort bemerken, »kein bloßer Beobachter der Natur«, sondern ihr adäquater Gleichnissteller, der aus ihr »Vertrauen und Zuversicht für seine eigene Existenz« schöpft, der auf die der Natur »gewährte Güte« setzt.

In Deutschland (und dank wichtiger Übersetzungen auch auf der ganzen Welt) gewinnt Johannes Kühn eine treue, immer größer werdende Leserschaft; der Schmerz und die Traurigkeit, die er in dunklen Tagen erdulden musste, scheinen wenigstens überwunden, wenn sie ihn auch gezeichnet haben. Trost und Zuversicht (»Abneigung und Spott / trag ich leicht / wie sanften Hauch aus Staub!«) fand und findet er in der »Liebschaft der Natur« – sie atmet er lyrisch »wie Wahnsinn ein«. Und so ist seine Bedeutung auf der Schwelle zum Natürlichen, zu Hügeln und Tälern, auf »Ackerfährte«, das Dasein eines Bilder gebenden und Bilder suchenden »Echos«, das voran schreitet, wandert und bisweilen frohlockt: »Schrittlust, / da wackelt das Fleisch an den Beinen, / die Brust bebt mit, / und es scheint, / als sei im Kopf / ein gütiges Feuer angezündet, / ein junges Leben / sei wieder aufgewacht, / bekenn ich laut diesem und jenem, / der wissen will, / warum ich lächelnd dahingeh.«

Im Alten Schloss lächelt er oft. Sein Handschlag wie seine Stimme sind in Dillingen kräftig, geradezu mächtig. Er muss viele Hände schütteln. Ihm wird gehuldigt. Und er erträgt dies geduldig. Gleichwohl würde es mich wenig wundern, wenn jenes Fest, zwischen Vergangenheit, Geschichtlichkeit, den Blumengestecken und Blumensträußen, während draußen die Industriegespenster spuken, Johannes Kühn nicht ganz geheuer gewesen ist. Lieber, wesentlich lieber wäre er wohl draußen gewesen, unter freiem Himmel: Das »schöne Land / bergauf, / bergab / mit lauten Jugendsinnen zu erwandern.«

Johannes Kühn Und hab am Gras mein Leben gemessenJohannes Kühn
Und hab am Gras mein Leben gemessen

Gedichte
hrsg. v. Irmgard und Benno Rech
Hanser Verlag, München 2014
Hardcover, 152 S.
€ 14,90 (D)

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Johannes Kühn Und es scheint, als sei im Kopf ein gütiges Feuer angezündetJohannes Kühn
Und es scheint, als sei im Kopf ein gütiges Feuer angezündet

Auswahl seiner Zeichnungen – Würdigungen seiner Poesie. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Alten Schloss Dillingen/Saar vom 09. Februar bis zum 02. März 2014.
hrsg. v. Francis Berrar sowie Irmgard und Benno Rech
Edition Schaumberg, Tholey 2014
Hardcover, 112 S.
€ 29,00 (D)

»Und es scheint, als sei im Kopf ein gütiges Feuer angezündet« bei Edition Schaumberg kaufen

Oliver Ruf: Die Kraft der BilderOliver Ruf
Die Kraft der Bilder

Marginalien einer Ästhetik des tröstenden Blicks. Essay über Johannes Kühn.
Wehrhahn-Verlag, Hannover 2014
Softcover, 48 S.
€ 5,00 (D)

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