Gedichte mit Tradition, Folge 205: »Ode an den Schlenzer« von Hellmuth Opitz

»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer

 

Hellmuth Opitz

Ode an den Schlenzer

Allein schon das Momentum,
wenn – um’s genau zu nehmen – gut
58 Muskeln sich versammeln
auf kleinstem Raum mit 26 Knochen
und Knöchelchen samt dem Geflirr
von Sehnen und Bändern sich:
einfach hier versammeln,
hier unten im Ballungszentrum des Fußes
und beschließen, hier und jetzt,
in der 59. Minute – um exakt zu sein –
aus, sagen wir 22 Metern Entfernung
dich zu erschaffen: ein Kunstwerk.
Ein Werk, halb Standbein, halb Spielbein,
eins, das den Leuten im Stadion
synchron das Maul aufreißt
wie einem Schwarm Fische,
eins, von dem man schwärmt
noch Wochen später,
eins, das in slow motion mit
jeder Wiederholung schöner wird,
eins, das

Allein schon das Eintrittsgeld
wert ist: Die Technik, den Ball
mit einem kleinen Teil des Fußes
nur zu treffen, geschätzt kaum mehr
als drei, vier Zentimeter,
halb Spann, halb Innenrist, damit der Ball
den Drive nach vorn kriegt,
den Zug zum Tor. Doch das ist nur
die halbe Kunst, der Rest heißt
Schnitt, heißt Dreh: Effet, damit der Ball
den Drall bekommt, nach außen erst
zu dreh’n und dann nach innen:
ein Kunstwerk der Ballistik, das
– um’s glasklar zu machen –
halb geschossen, halb geschoben
die Flugbahn so elliptisch lenkt,
dass jeder hier im Stadion denkt:
der Schuss ist knapp vorbeigezogen,
bevor der Bogen sich plötzlich
nach innen senkt, zum Tor hin,
so atemberaubend, dass

Allein schon die Lässigkeit
des Fluges – um’s rundheraus zu sagen –
die Zunge schnalzen lässt. Und erst
dein Name: Schlenzer. Da winkt
von fern der Stenz her, das Schlitzohr,
der Schlaks mit schlenkernder Bewegung,
ja, auch der Schlendrian klingt an,
das schlamperte Genie, aus dem
Fußgelenk geschüttelt: Nirgends sonst
wirkt Präzision so hingeschludert
wie bei dir, dem Schlenzer, dem Schrecken
aller Torhüter, dem Liebling aller Spitz-
und Hackentänzer, wenn du
unfehlbar, wie auf einer Umlaufbahn,
dich auf den Winkel zubewegst
und quer der Torwart, der’s zu spät
geahnt, die Luft durchschneidet mit
gespreizten Handschuhen, dass es
die Leute von den Sitzen hebt,
aufgerissenen Auges, magisch Gebannte
und dann: nur Latte. Unterkante.

Allein schon der Torschrei
der nicht geschrieen wird, weil er abrupt
gestoppt auf Tausenden von Lippen, ist
implodierte Energie, ein Mundvoll Luft:
jäh verstummt, dann verstimmt, herab
gedimmt zum Grundton der Enttäuschung.
Klar ist – um präzis zu sein – ein Zentimeter
fehlte zur absoluten Präzision,
ein Zentimeter nur, der ein Genie
zum Trottel macht, der – um es
auf den Punkt zu bringen – ein Kunstwerk
aus entschlossener Physik und
allerfeinster Geometrie verkommen lässt
zur plumpen Pose, ein Kreuz ist’s
mit dem Lattenkreuz: ein Zentimeter,
ein Buchstabe nur und aus dir, dem großen
Schlenzer, ist ein Schlunzer geworden:
schlapp, abgetropft – und aufgetrumpft
hat nur der Gegner. Und wer ist schuld?
Nur du, Idiot. Du Schlunzer. Lachfigur
der Lässigkeit. Großer Chance-Verhunzer.

 

© Hellmuth Opitz, Bielefeld
 

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Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.

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