»verdecktes gelände« von Nico Bleutge

rezensiert von Paul-Henri Campbell

Nico Bleutge: »verdecktes gelände«

»us and our stuff just covering
the ground«
(Gary Snyder: Covers the Ground)

Nehmen wir an, das Experiment ginge auf: sich zur Welt in ein solches Verhältnis zu setzen, das komplexer wäre als ein bloßes »Lesen« von Landschaften, komplexer noch als die poetisierende Interpretation und die Manien der Sinnzuschreibung per Logos und Cogito. Unsern Weltbezug und Selbstbezug radikal von der Wahrnehmung her zu gewinnen. Dinge sind da. Und Nico Bleutge wendet die cartesianische Wende erneut. Dinge sind nicht notwendig an sich denkbar, reflektierbar, beschreibbar. Wir können locker bleiben. Sie sind einfachhin und bedürfen zunächst keiner Extraktion von Bedeutung. Nehmen wir an, wir ließen ein stimmhaftes Wesen reagieren auf seine Welt wie die Fühler eines Insekts auf das plötzliche Vorhandensein eines Zweiges.

Nico Bleutges »verdecktes gelände« ist ein solches Experiment. In Kontinuität mit seinen anderen beiden Gedichtbänden, »klare konturen« (2006) und »fallstreifen« (2008), wird sein Gedicht zu einem Resonanzraum der Stimme, die sich an Dingen und Orten bricht. Und das Sensorium dieser Stimme ist offen für alles, was ihr begegnet: »saugende töne. der weg schien vom gehen / tiefer zu wachsen. schatten, aufgerauht / an ihrer wurzelseite, schuppiges umsehen / das von den stämmen her kam«. Schon in dem ersten Text, dem wir bei der Lektüre begegnen, wird deutlich, wie sehr diese Dinge durchtränkt oder animiert werden, von den Sinnen, die sie erfassen. Stämme sehen, Wege wachsen, Schatten besitzen eine aufrauhbare Materialität.

Zu Recht bemerkten Kommentatoren die surreal anmutenden Übergänge, plötzliche, abrupte Wechsel, das Ineinanderfließen dessen, was die Stimme des Gedichts streift. Bildet sich irgendwo in den ersten Verszeilen eine Ankunftsszene an irgendeinem Ufer, so verwandelt sich diese Szene drei Verse weiter in »[…] keller / die nachhallten, gänge, einfach überwölbt, / von feuchte durchzogen.« Innenwelten und Außenwelten gehen ineinander über wie auch Fluten in Flocken, Flocken in »schlafwehen« übergehen. Ein Grundmotiv, wenn man so will, ist bei dem in Berlin lebenden Exil-Münchners die Bewegung des Gehens, die ebenfalls durch zahlreiche transitorische Phasen oder Modalitäten gekennzeichnet ist – nach innen gehen, draußen gehen, spurenhinterlassen, herumirren.

Bei so vielen sanften und extremen topographischen Erlebnissen, wie sie Bleutges Texte herbeiführen, wundert man sich, was eigentlich das Gelände sei, das »verdeckt« ist. Ist es eigentlich subterranes oder subkutanes oder sogar subliminales Gelände, was sich durch verdeckende Oberflächenstrukturen verschließt Gehen wir mit diesen Gedichten irgendetwas auf den Grund?

Im Folgenden möchte ich drei Zugangsweisen zu Bleutges Gedichtband vorschlagen: 1) Das sprachliche Biotop, 2) die Stimme und die Stimmen, 3) der – unabschließbare – Sinn solcher Kunstwerke. Ich will auch zu Beginn gestehen, dass ich denke, wir haben es bei dem Langgedicht »verdecktes gelände« mit einem Jahrhundertgedicht zu tun. Ich sage nicht mit dem Jahrhundertgedicht, aber mit Bestimmtheit mit einem – das bleiben wird.

Schwanken und Gleichgewicht eines Logotops

Eine vielseitige Variation an freien Rhythmen. Bemerkenswert sind die lautlichen Verklammerungen, die die einzelnen Passagen durch eine teilweise alliterative und assonante Durchbildung der Verse zusammenhalten:

»tiefe, näher dem boden, näher dem grundwogen zu. steingrau / und gußgrau, ununterbrochen, unaufhörliches schieben / von grau, das sich umstülpt, grau, das sich auflöst, zinn- / grau basaltgrau, schelferndes grau« (Nico Bleutge: dämmerung. schwanken VI)

Ohne dass Bleutge den englischen Lyriker Gerald Manley Hopkins SJ auch auf irgendeine Weise im Sinn gehabt hätte, möchte ich doch zum Vergleich zum Ebenzitierten zwei Zeilen aus That Nature is a Heraclitean Fire zitieren: »Down roughcast, down dazzling whitewash, wherever an elm arches, / Shivelights and shadowtackle in long lashes lace, lance, and pair.«

Freilich gewinnen die Verse noch zusätzlichen Sound durch wiederkehrende Klangfolgen wie »näher« oder »grau«, doch die melismatische Wirkung generiert auch das Spiel von hellen und tiefen Klangflächen. Gleichwohl machen die häufigen Wiederaufnahmen den Textfluss zäher, verlangsamen ihn. Und auch in der obigen Passage, ist die Szenerie unbestimmt belassen: Wir können kaum entscheiden, ob wir uns in einer Höhle oder einer Industrieruine, in einer Pfütze oder auf dem Grund eines Bachs befinden, wo sich blinde Wesen übereinander schieben.

Die Oszillationen der Sprache zwischen den Dingen und der wo auch immer zu verortenden Wahrnehmung schafft eine sonderbare, aber auf sonderbare Weise faszinierende Präsenz. Ich empfinde diese Präsenz als beunruhigend, weil sie einerseits einen Sog entwickelt, der mich die Konfiguration der Worte als angenehm empfinden lässt, und doch andererseits ich meist kaum oder nur ungefähr benennen kann, was in dem Gedicht vor sich geht. In einer Welt, in der alles recherchierbar und potentiell in Erfahrung gebracht werden kann, empfindet man Bleutges sonore Viel- und Unbestimmtheit als unbedingte und befreiende Rückverweisung auf die eigene kreative Intelligenz als Leser: »und dann die lampengeschäfte, ihr nach- / gebendes summen, mit der umluft darin // den leichten steppengeruch ceylan / leuchtete, -latma, ausstehende nacht- // arbeit.«.

Akustische Gefühlsprägung

Und es ist ebenso ein Lexikon, das die übliche Erlesenheit poetischer Wendungen unterläuft, in dem es Komposita bildet und Bilder aufruft, die voll sind von einer Wonne an Präsenz – z. B. »strohfäden«, »belfern«, »schotterschneißen«, »efeugeschmack«, »dämmerungsdichte«, »flugfarben«, »pflanzenatem«, »tragflügelflächen«, »bildschwämme«. Und während der Duktus dieser Gedichte hypnotisch wird, scheint es auch gar nicht mehr so, als sei die kantige deutsche Sprache nicht eine Sprache, die klingt wie zwei knutschende Baggerschaufeln; selbst Worte wie »neubaufronten«, »ruhwaldpark«, »lampengeschäfte«, »vorhangstoff«, »ladentheke«, »plastikschlauch« fügen sich in den Singsang von Bleutges Lyrik.

Man braucht nur solche Begriffe lokalisieren und sie im Hinblick auf ihr akustisches Umfeld anzuhören. Nehmen wir zum Beispiel heraus, das kakophonische Ungetüm »fachwerkkanten«. Bleutge hat sowohl die konsonantische als auch die vokalische Problemzonen dieses Wortes wundervoll eingebettet: »dächern und balken / fachwerkkanten / das dunkel darüber / nicht sichtbar, nicht sichtbar«. Die Umlaute ä und ü sowie die reinen Vokale a und u in den zitierten Versen 1 und 3 spiegelverkehrt positioniert (also ä-a-u-ü), sodass sie das Wort »fachwerkkanten« zwischen ihrer schwankenden Bewegung optimal wiegen können. Die gesamte kurze Passage ist dann mit hellen i-Vokalen und Zischlauten abgerundet.[1] Solche Beispiele lassen sich überall bei Bleutge entdecken und geben den Texten eine sublime, akustische Gefühlsprägung. Und allmählich wird auf diese Weise (vielleicht) bewusst, dass er beim Eintauchen in diese Gedichte jenes Feld der Lyrik verlässt, das sich maßgeblich in verbissenen Interpretationen ergeht und sich in seiner Verzweiflung aus Textkörpern Verständlichkeiten herauslöst, die mit der Physiognomie jener Texte nichts zu tun haben; kurzum: Wir sind auf dem nichthermeneutischen Feld; dort, wo Friedrich Kittler von sensibilité intellectuelle zu sprechen begann. »verdecktes gelände« ist Neuland: einer Welt, die sich nur allmählich zeigt.

Stimme und Stimmen

Freundlicherweise gibt Nico Bleutge einige Namen bekannt, deren Stimmen er sich leiht: »Mal bleiben die Stimmen im Hintergrund, mal färben sie einzelne Verse, mal treten sie als Zitat hervor«. Es handelt sich um die handelsübliche Melange aus Titanen und Exoten: z. B. Ezra Pound, Inger Christensen, Robert Creely, T.S. Eliot, Göran Sonnevi, Gary Snyder, Jürgen Becker und andere. Das Langgedicht »verdecktes gelände« ist auch ohne Kenntnis bzw. dem Mitlesen dieser Referenztexte eine anregende Lektüre. Die Stimmlagen sind auch ohne den Duktus von Gary Snyders Westküstenbuddhismus explizit wahrzunehmen wundervoll. Bleutges Gedichte sind auch dann interessant, wenn man durch die Modifikationen die emphatische Erbaulichkeit von Inger Christensen nicht bewusst mitliest.[2] Ich möchte, bevor ich hierzu komme, jedoch auf die Sprechweise(n) dieser Stimme eingehen, insbesondere auf die über weite Strecken vorgenommene Ausradierung dessen, was man hierzulande das lyrische Ich zu nennen eingeprügelt bekommen hat.

Nico Bleutges »verdecktes gelände« wurde breit im Feuilleton besprochen. Alle deutschsprachigen Rezensenten schwärmten vom ausgesparten Ich. Diese von der Kritik soweit unisono konstatierte Tilgung des lyrischen Ichs ließe sich, denke ich, noch weiter radikalisieren, denn diese auf weiten Strecken geschehene Aussparung des artikulierenden Subjekts wird ja nicht hergestellt, einfach indem Bleutge das Wort »Ich« meidet. Vielmehr entsteht zwischen der Ortlosigkeit der Stimme, also der Nicht-Verortbarkeit des Wer-der-Stimme, und zwischen Bleutges Text, der doch so viel mit Räumlichkeit zu tun hat, eine interessante Spannung.

Was Bleutge erzeugt, ist Ungewissheit. Und mit der Ungewissheit dessen, wer wahrnimmt, wird auch das, was wahrgenommen wird, vieldeutig und schwankend. Aber eine solche Feststellung ist nichts gemessen an der gelungenen Realisierung eines solchen Effekts, den seine Verse hervorbringen. Hier zwei Beispiele aus Nico Bleutges Band: »echos von stimmen, echos / von rauchigem licht // hell wie die kinder / draußen im park« sowie dieses Beispiel: »[…] fast / durchsichtiges / licht, im / innern, wie / flor in luft / wie / leuchtende / rinde, die / abfällt, entfernt«.

Gerade das zweite Beispiel (das von dem Langgedicht »verdecktes gelände« genommen ist) hat, wie ich finde, einen leichten orientalischen Einschlag, auch die Ellipsen, die hier die Artikel vor z.B. »flor« und »luft« tilgen, bewirken einen leicht exotischen, nicht-idiomatischen Effekt. Ganz stark.

Und dann rufen die Stimmen die Verdecke des Geländes zunehmend direkt auf: »bilder von brandschutt und platten / von zündungsnestern, von sprengkammern / unter den böden, luftbilder, -karten, laminiert«. Obschon der Gestus des Gesamtgedichts mehr aus der Richtung Pounds Cantos (vgl. bes. Canto 49) zu kommen scheint, möchte ich eine Vergleichsstelle bei Gary Snyder danebenlegen. Sie ist aus dem Gedicht Covers the Ground: »and the ground is covered with / cement culverts standing on end, / house-high & six feet wide / culvert after culvert far as you can see / covered with / mobile homes«.

Stille Reflexivität

Und leicht wäre man angesichts der stilistisch wunderbar aufgenommenen Tonlagen geneigt Bleutge eine Art avanciertes Epigonentum nachzusagen, wenn nicht – ja wenn nicht etwas in diesem Gedicht wäre, was so stark die Stimmung im 21. Jahrhundert aufnimmt. Die Naivität Pounds (es ist tatsächlich eine gewisse Naivität) mit Fremdmaterial umzugehen, ist bei Nico Bleutge einer zweiten Naivität gewichen. Ein kontrolliertes und doch freischwebendes, ungezwungenes Wissen um die Gemachtheit der polyphonischen Melange: »[…] entfernungen, / geräusche, jenseits der stimmen // kaum zu verorten, kaum zu benennen / im rhythmus des schnees«[3] oder auch: »[…] der sand eine spur / die durch den kanal geht // angehalten die dinge, klarer / in ihrer verbindung. das gehen genügt«.

Keineswegs ist damit behauptet, dass Typen wie Pound dieses Wissen fremd gewesen wäre; und doch ist es bei Bleutge anders. Ich denke, bei Pound oder Snyder würde man lange suche müssen, um Verse zu finden, die diese Tonlage und stille Reflexivität verbinden, ohne dass sie zur Rückendeckung Circe oder irgendeine chinesische Autorität anriefen. Bleutge hingegen schreibt: »[…] die bahnen sind / nur eine ahnung jetzt, filzartig, kaum noch / fest, was gehen könnte, was staub / der im schauen nachbrennt«. Die Passage spricht in der Gemachtheit des Langgedichts mitten aus einer rückhaltlosen Stimme. Man darf sie natürlich nicht isoliert betrachten. Aber Bleutge vollzieht ein Paradox: Diese scheinbar subjektlose, unverortete Stimme weiß um sich selbst. Und daher ihre unheimliche, verzweifelte, tastende Suchbewegung nach dem Wer und Was ihres Klangs.

Was bringt’s?

Ich habe vorhin von der Wonne der Präsenz gesprochen. Es ist natürlich schon so, dass Texte dieser Machart nicht der Anfrage des »so what?« entgehen können. Und egal wie irrelevant wir die Frage einstufen mögen, die Unterscheidung, ob das Gedicht etwas sage oder nur sei, ist relevant. Ich meine hiermit nicht die hysterischen Grabenkämpfe der Verständlichkeits-Unverständlichkeits-Diskutanten. Was ich meine ist dies: Ist der Sinneffekt von »verdecktes gelände« bloß die vage Fantasie meiner Onanie – nie greifbar, immerfort unfassbare Vorstellung, Ahndung und Anmutung, bis ich ejakuliere und augenblicklich jegliches Interesse daran verliere? … oder was ist »verdecktes gelände« sonst als signifikantes Kunstereignis in der Welt?

Keineswegs soll hier eine Antwort stattfinden. Ich möchte an die Qualität von Präsenz erinnern. Nur einige Überlegungen zum Sinn dieses Textes. Ich denke, wir können durch Nico Bleutge etwas gewinnen, sehr viel gewinnen. In einer Epoche, darin jedes Terrain via Google Maps auf den Bildschirm zu holen ist, ist der Bildschirm unsere Welt und bindet unsere Aufmerksamkeit. Somit sind die Bildschirme oder alle medialen Elemente des Alltages, die uns permanent Landschaften, Kriege, Korallenriffs, Gesichter oder Pflanzen präsent machen, die wir vielleicht nie wirklich sehen werden. Durch diese Medialität werden diese im Grund bezugslosen Dinge zum Teil unserer Welt …

… so schaffen Bildschirme auch Barrieren zur Wirklichkeit, sind sie Schranken eines immer anonymer werdenden Bezugs zur Wirklichkeit. Aber, um mit Bleutge zu sprechen: »hüllen aus schatten und schilf. raum dehnt sich über den bänken, / über den lampen, geländefalten, marderstrukturen, leichte schmelz- // bewegung, wo das wasser meerwärts zieht, unterm eis.«.

Nun ist gewiss das gedruckte Buch und die Sprache selbst eine gewisse Schranke zwischen uns und den Dingen, aber der richtig gewählte Modus des Sprechens, eine behutsam temperierte Stimmlage, die treffende Verschmelzung von Eindrücken – und es gelingt möglicherweise einem Text, wie »verdecktes gelände«, in uns eine Bezugnahme zu erwecken, die an der Unmittelbarkeit grenzt. Ich denke, auch wer Nico Bleutge flüchtig und als leichte Lektüre liest, wird ein Gespür für diese Veränderung entwickeln, die sich allmählich in einem einstellt, als eine allmähliche Ummünzung der eigenen Gefühlsprägung, sooft man in die herrlichen Verse von »verdecktes gelände« eintaucht.

verdecktes gelände
Nico Bleutge
C.H. Beck München 2013
78 S.
€ 14.95 (Gebundene Ausgabe)
€ 11.99 (E-Book)

 

 

 

Diese Rezensionen werden Ihnen von Paul-Henri Campbell präsentiert. Campbell ist 1982 in Boston (USA) geboren und schreibt Lyrik sowie Prosa in englischer und deutscher Sprache. Gedichtbände: »duktus operandi« (2010), »Space Race. Gedichte:Poems« (2012). Er ist ebenfalls Übersetzer und Mitherausgeber der internationalen Ausgabe der Lyrikzeitschrift DAS GEDICHT (»DAS GEDICHT chapbook. German Poetry Now«). Soeben erschienen ist »Am Ende der Zeilen. Gedichte | At the End of Days. Gedicht:Poetry«.

  1. [1]Ich sage hier keineswegs, dass Nico Bleutge dieses Fügungen bewusst gemacht hätte. Ich weiß im Grunde überhaupt nicht, was Nico Bleutge sich dabei gedacht haben mag. Was hier feststelle, sind schlicht phonematische Fakten, die sich über diesen Text aussagen lassen bzw. die Art und Weise wie mein (subjektives, auch beschränktes) Leseempfinden darauf reagiert.
  2. [2]Was im Übrigen durch die Vielzahl der Übersetzungsoptionen ohnehin schwierig ist.
  3. [3]vgl. hier im Übrigen Ezra Pounds Adaption von Seafarer: »Neareth nightshade, snoweth from north, / Frost froze the land, hail fell on earth then / Corn of the coldest«.

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