»Pergamon Poems« von Gerhard Falkner

rezensiert von Paul-Henri Campbell

»Pergamon Poems« von Gerhard Falkneer Gerhard Falkner »Pergamon Poems«

»Die Hand ist ergänzt«. Gerhard Falkner lässt mit dieser schlichten restaurierungsgeschichtlichen Feststellung ein Poem einsetzen, das nichts weniger verhandelt als die Differenz zwischen Totalität und Fragment im kosmischen Sinne. Die »Pergamon Poems« (kookbooks, 2012) sind entstanden in Kooperation mit Videokünstlern (Constantin Lieb und Felix von Boehm), der Antikensammlung der staatlichen Museen Berlin und Mitgliedern des Ensembles der Schaubühne Berlin. Damit ist noch nicht viel über das mehrteilige Poem gesagt, das auf eines der faszinierendsten Monumente der antiken Staatsreligionen rekurriert, den Pergamonaltar. Der Gedichtband liegt in der englischen Übersetzung von Mark Anderson zweisprachig vor.

Ich möchte in den Kreis von Falkners »Pergamon Poems« zwei Linien ziehen, die nichts weiter sind als mögliche Zugänge zu diesem Werk bzw. ein Versuch, das zu gliedern, was ich dazu bemerken möchte. Es wird dabei gehen um 1) Ergänzung und Erzeugung von Abwesendem sowie der Idee des Schönen sowie um 2) das Verhältnis vom Fragment zur Totalität.

Erzeugen im Ergänzen

Sie heißen »Poems«, nicht Pergamon-Gedichte/Verse/Gesänge. Die Titelwahl für diesen Gedichtband fiel auf einen gängigen Gräzismus, der aus dem Verb ποιεῖν (machen, bewirken etc.) gebildet wird. Soll uns der Titel schon die Ehrfurcht nehmen? Bleibt es bei jeglicher Kunst immer ein Mensch, der schafft, gleich wie monumental, aufregend, bezaubernd, einnehmend, faszinierend ihre Produkte sein mögen? Vielleicht nicht. Der Mensch mag ein Macher sein bzw. ein ›Poet‹ im arkadischen Sinne, doch sooft wir des Gemachten gegenwärtig sind, verblüfft es uns immer wieder, wozu doch dieser scheinbare Homunkulus fähig ist.

Die Idee der Schönheit spielt eine tragende Rolle in Falkners »Pergamon Poems«. Und in der Tat ist die gesamte Hingabe an die Antike (besonders seit dem 17. Jahrhundert) getragen von der Idee des Schönen. Und es war auch die moderne Literatur, die diese neoklassische Antikenvernarrtheit in der spätabendländischen Gefühlsökonomie geweckt und motiviert hat; es war die energetische Potenz der Literatur, die den Pergamonaltar nach Berlin geführt hatte.[1] Diese Idee ist aber seither immerfort Fiktion; und doch entwickelt das Schöne in seiner Fiktionalität eine besondere Wirkmächtigkeit. Die »Pergamon Poems« sind aber mehr als eine Wiederaufnahme. Sie sind kein take two.

Falkners Modernität liegt jedoch nicht in der melancholischen Klage über den Verlust der Schönheit, nicht in der so landläufigen Behauptung das Schöne sei auch im Hässlichen zu suchen, sondern im fanatischen Bestehen auf ihre Tatsächlichkeit, ihre Erfahrbarkeit, ihre mittelbare und doch berührende Evidenz. In einem frühen Gedichtband Falkners heißt es: »doch du bist schön, ein zelt dunkler tulpen / in deinen kelchen ruht das warme / unentbundene rot, […] / der wir den puls öffnen, ihr süßes / reservoir verschämter schwärmereien«.[2] Hinsichtlich des Pergamonaltars sollten wir fragen: Was ist das »unentbundene rot«, das in der blassen Majestät des Marmors ruht?

Die erste Zeile der »Pergamon Poems« öffnet mit dem Phänomen des Verlusts: »Die Hand ist ergänzt.« Es will wohl heißen: »Die Hand« des Dichters ist »ergänzt«. Die Hand ist etwas Nachträgliches zum Marmor. Der Marmor ist nachträglich zum Timbre des Mythos. Und der Mythos ist die Nachträglichkeit dessen, was niemals war. Oder nicht? Wir können sicher sein, dass die Hand des Dichters nicht ins Leere greift. Sie ergänzt, indem sie erschafft, was niemals war und doch war und ist. Wir befinden uns hier nicht auf einer Kaskade hübscher »Rezeptionsgeschichten« und sekundären Wissens. Nochmal: Die Hand des Dichters ergänzt, was niemals war und doch war und ist. Wir müssen diesen Zirkel verstehen, um die Evidenz teilen zu können, worauf die Falkner-Gedichte gründen. Wir befinden uns ergriffen von der produktiven Dynamik der kreativen Aneignung von Welt – im Machen aus Gemachten. Die imaginative Setzung aus dem Material von vorausgegangenen imaginativen Setzungen — »ihr süßes / reservoir verschämter schwärmereien«.

Die ergänzte Hand des Dichters kommt nachträglich zum Marmor und doch ist die Hand, die ergänzt worden ist, Teil des Marmors und somit Teil des Frieses, der wiederum Teil einer Vorstellungswelt ist, die sich in ihrer Totalität nicht vollständig an einem einzigen Ort darstellen lässt – selbst dann nicht, wenn dieser Ort in aller Monumentalität gefasst ist. Die Hand des Dichters kommt nachträglich zu etwas, das nur teilweise da ist. Aber: »Es existiert vom Schwert nur noch der Stoß / der Rest ist Lücke, Zwischenraum, Fragment«.

Von fassbaren Gegenständen, wie dem Schwert, bleibt auf dem Fries nur noch das, wofür es gemacht worden ist: »der Stoß«. Was übrig ist vom Ehedem, das ist der unaufhaltsame, vorwärtsdrängende Impuls, welcher bei den Betrachtern von Fehlstellen immer neue Schärfen des Schwertes zu schaffen vermag: »Doch wie viel Gigabyte hat dieser Fries, welch / gigantisches Archiv birgt dieser Stein, dass / selbst die Klinge, die nicht mehr vorhanden, mit einem Schimmer von Unsterblichkeit / die Ewigkeit der Götter wiederspiegelt«. Erinnerung ist hier nicht bloß als etwas Deponiertes oder Abrufbares verstanden, sondern als die Herstellung des Abwesenden. Somit greifen die »Pergamon Poems« gleich zu Beginn das funktionslogische Moment des Frieses auf, nämlich als Bestandteil eines Altars. Und was ist ein Altar schon anderes als die nachträgliche, immer wieder neu aufzusuchende Einheit einer Welt?

Dichtung wird hier begriffen als das Herstellen von Abwesendem am Ort der Sammlung. Gleichwohl aber reflektieren die »Pergamon Poems« die Schwierigkeit totale Erfahrungswelten in die partielle Gestalt eines Gedichtes zu fassen. Dieser Bruch jedoch ist ein doppelter. Denn Gerhard Falkner behauptet weder, dass das Gedicht nur kleinteilige oder lokale Zusammenhänge erfahrbar machen könnte, noch hypertrophiert er das Gedicht zum All des Sagbaren. Vielmehr erscheint das Gedicht als Hervortreten eines im Akt des Nachvollzugs erscheinenden und verweisenden partikularen Ganzes. Das Gedicht meint den Schmerz oder das Bedauern, vielleicht auch das Glück, das fassbar wird in seiner Unfassbarkeit, sooft »Schönheit« auf irgendeine Weise »selbst den Marmor / aus der Fassung bringt«.

Es ist, folgt man Falkners Gedicht, jene Schönheit, die der Kontemplation entspringt, nämlich nachdem das lyrische Subjekt angesichts der Marmorgestalt der Aphrodite von einem Sturzbach an Erinnerungsströmen ergriffen wird, die den Augenschein des Fries »ergänzen« um Botticelli, um in Wallung gebrachte Gewänder des Barocks, um Tanz (bis in den Rock’n’Roll) usf. Das heißt: Als Objekte der Anschauung initiiert der Fries als Datenspeicher eine Sequenz an subjektivierenden Abrufungen.

Dass diese Dinge unter Umständen herzlich wenig mit dem Fries zu tun haben, stört den dichterischen Überschwang wenig: Vielmehr kennzeichnen diese anamnetischen Ergänzungen das imaginierte Totalitätserlebnis, das das Subjekt macht, indem es sich dem Gedicht-Fries ergibt. Es ist nicht das Abrufen von architektonischen, kunsthistorischen, mythologischen, kulturwissenschaftlichen Wissensbeständen, die man im Zusammenhang mit dem Pergamonaltar pflegt zu erwähnen. Was den Altar ausmacht, ist seine je subjektive Vermittlung eines Totalitätserlebnisses, welches sich hier in Gerhard Falkners Gedicht als gemachte Rede dokumentiert: »das Kleid [der Artemis] ist außer sich vor Falten / Der Wulst, mit dem es unter ihrer Brust gehalten, / macht den Marmor weich und lässt ihn fließen«.

Immer wieder erzeugt Falkner Bilder, in denen das statische Element des Marmors kinetische Kräfte entwickelt, die im bestaunenden Subjekt des Gedichts imaginative Energien erschließen. Das Sprachmaterial des Gedichts generiert daher nicht einfachhin Material, womit Fehlstellen ergänzt werden könnten, sondern simuliert gleichsam eine Ahnung von der Sinnganzheit dessen, wofür der Marmor bearbeitet worden war. Das Gedicht erweckt, um es kurz zu machen, die sukzessiv verbürgte Gewissheit über den Grund des Schönen, welche das Schöngemachte über alle Zeit und Zusammenhänge hin als bedeutungsvoll trägt. »Die Torsi torkeln von der Wucht des Schönen / und jeder Lücke stockt der Atem / wie Schönheit so und Schock sich hier versöhnen«.

»Du musst so lange auf den Marmor starren / bis die Impulse in den Schläfenlappen / übersteuern, […] / bis dir die dünnen Lippen, kleine Laute / […] wie Schuppen / von den Augen fallen und […] / […] das Geschaute dir enthüllen wie / ein Denkmal […]«. Wir sind hier bei einem ambivalenten Erfahrung: zunächst beim Bann der Augen (»du musst«) und dann das Losgelöste (»enthüllen«). Die Form des Sehens kulminiert im »Denkmal«, welches das bindende Sehen loslöst in ein kognitiv »Geschaute[s]«. Der prozessuale Verlauf dieser Verwandlung vom optischen zum kognitiven Erkennen führt über die sprachliche Gestalt der als visuelle Begegnung inszenierten Einsicht in das Schöne, welches errungen wird im Spiel aus Anschauung und sprachlicher Betonung. So, könnte man sagen, wird das Schöne erkannt, aber erst im (bzw. als) Gedicht als solches konkretisierend behauptet.

Fragment und Totalität

»Die Lücke ist verdichtet«, heißt es im Abschnitt »Otos«. Die dichtungsproduktive Dimension der Fehlstellen klang oben schon an. Es ist aber notwendig zu verstehen, dass das, was als Fragment am Pergamonaltar beschaut wird, erst in der dichterischen Imagination eine Sinnrichtung gewinnt. Während das Fragment zunächst nur Marmor bleibt und ist, erweckt der poetische Text das Fragment, indem er uns seine eigentliche Dramatik bedeutet: »Das Fragment / ringt um sich selbst«. Denn nicht im harmonisch gefügten, sondern im Fragment wird die Zersplitterung, der Eklat (éclat) des Ganzen virulent. Und der Barde selbst kann den Blick auf »Herakles« nur mit einem deklamatorischen Ausruf feststellen: »Er fehlt«! Dieses Fehl jedoch ist im Sinne der via negativa (einer negativen Poetik) zu begreifen: das Fehlende weckt die Dringlichkeit der Sehnsucht, für die aber, wie es in Falkners Gedicht weiter steht, gilt: »Nur die Idee kann ihn ergänzen«.

Der französische Philosoph Gérard Granel (1930–2000) schrieb über das Fragment einmal: »Die Fraktur [geschieht] von beiden Seiten […]. Das Fragment umfasst also nicht als eine Einheit, sondern umfasst gerade als ein Bruch, was ihr seit unerinnerlich alten Zeiten verbleibt als diese Seite des Bruchs und als diese andere Seite des Bruchs«. Obwohl, wie es in den »Poems« heißt, die »Durchschlagskraft der Zeit« alles »weggefegt« und »leergefegt« habe, drängt Falkner – im Gegensatz zur »Stille« des Marmors – lautstark auf die Wirklichkeit des Verlorenen, indem er den Verlust als Bruchstelle markiert.

Wir dürfen uns mit Falkner aber die Verlorenheit dessen, was am Fries fehlt, nicht vorstellen als eine retroutopische Melancholie, die die Antike als Garant des Schönen beschwört. Um eine solches Urteil zuzulassen, sind die »Pergamon Poems« in ihrer Bauweise und reflexiven Dynamik viel zu typisch für das späte 20. und frühe 21. Jahrhundert. Die (obwohl mit synästhetisch funktionierenden Bilder) stark deklarativen Passagen appellieren mehr an eine zerebral-meditative Rezeption der »Pergamon Poems« als an einen gefühlsmäßigen Konsum wie er z.B. für die Texte der Pop-Musik typisch ist: »Scherben zersprungener Töne, atonale Brüche / Synkopen, die Schweres und Leichtes so verschieben, / dass Licht ran kann.« Im Gegensatz aber zu den Apokalyptikern der späten 1990er-Jahre (z.B. Hans Magnus Enzensberger und Volker Braun) glüht in den »Pergamon Poems« ein beschwingter Möglichkeitssinn.

Außerdem operieren die Texte häufig mit dem Bathos, dem sogenannten Stilbruch, der vom hohen Ton plötzlich bricht und sich in Niederungen des Sprechens oder Denkens begibt. So lässt Falkner den Text von einer ernsten Stimmlage gelegentlich kontrolliert abstürzen ins Scherzhafte: »Steckt das Schöne auch im Misslingen / Ist Misslingen eine Ortschaft in Schwaben [?]« oder im Abschnitt »Demeter«: »Ich finde Männer mit Flügeln toll«. Die Antike ist hier inmitten ihrer Unmöglichkeit aufgenommen, in der Gegenwart angemessen an sie anzuknüpfen, ohne den Beigeschmack des Absurden zu empfinden, sodass bei aller Anciennität des Geschauten der Strom der gegenwartsbezogenen Erinnerung nicht aufgehalten werden kann und in die Stimme des Gedichts eindringt als Erinnerungen an Arnold Schwarzeneggers Terminator, an die Stimmung einer Airport Lounge um 4:30 Uhr, 3D-Simulationen, Orangensaftautomaten, den Berliner Alexanderplatz, White Noise des Fernsehers und Radios, die Twin Towers, Monitore, das Kino, Klingeltöne und vieles mehr.

Somit wird das, was vom Fragment umgrenzt wird, nicht nur eine Totalität des Vergangenen, sondern wird das Fragment zum Moment einer Totalität des Erinnerns überhaupt; also wird das Fragment zu einer anamnetische Kraft, die das sich erinnernde Subjekt nicht angesichts des Objekts seiner Anschauung außer Acht lässt: in der Erinnerung des Vorzeitigen wird das Jetztzeitige involviert.

Und dennoch wirken die von der Romantik erzeugten Prägungen der europäischen Seele nach. Bei Falkner findet man sie hier beispielsweise im Spott über Goethe als den nüchternen Horizontbeschauer: »Wer nicht nach oben blickt / findet das Höhere nie. […]: / Anruf bei Goethe genügt!« Später wird konstatiert: »im Faltenwurf / herrscht Wodka […] Trunkenheit / des Materials vor lauter Daseinsjubel, Übermut und Eleganz«. Es herrscht insgesamt eine Atmosphäre der Unüberbietbarkeit und Unerreichbarkeit; diese Atmosphäre ist aber gebrochen einerseits in der imaginativen Energie, es dennoch überbieten zu können, und andererseits der brüchigen Überlieferung des Vergangenen sowie der Thematisierung der fragwürdigen Absurdität einiger mythischer Plots.

Es mag sein, dass Platon die Dichter für Lügner hielt. Die Geschichte weiß aber von Homer, das er auch erblindet zu sehen vermochte. Und weder die Hierophanten noch die Sykophanten und schon gar nicht die Philosophen sorgten dafür, dass wir die Altäre der Alten bis in ihre Fundamente begreifen können. Nur die Dichter bewahrten eine Ahnung vom Sinnzusammenhang jener Monumente, da sie in ihrer Vereinzelung stärker als alle anderen spüren, was es bedeutete ein Splitter zu sein, ohne zu wissen, wo und wie sich ihre Zersplitterung fügt in eine Ganzheit dessen, was der Mensch in seiner Ausdrücklichkeit sein mag. Die »Pergamon Poems« zumindest sind ein Anlauf hin zu dieser Ausdrücklichkeit, ob der Wurf gelungen ist, müssen Falkners Leser beurteilen.

»Pergamon Poems« von Gerhard Falkner Pergamon Poems
Gerhard Falkner
deutsch / english
kookbooks, Berlin 2012
64 S.
€ 19,90 (Broschur mit beiliegender DVD, Clips mit Untertitel)

 

 

 

Diese Rezensionen werden Ihnen von Paul-Henri Campbell präsentiert. Campbell ist 1982 in Boston (USA) geboren und schreibt Lyrik sowie Prosa in englischer und deutscher Sprache. Gedichtbände: »duktus operandi« (2010), »Space Race. Gedichte:Poems« (2012). Er ist ebenfalls Übersetzer und Mitherausgeber der internationalen Ausgabe der Lyrikzeitschrift DAS GEDICHT (»DAS GEDICHT chapbook. German Poetry Now«). Soeben erschienen ist »Am Ende der Zeilen. Gedichte | At the End of Days. Gedicht:Poetry«.

  1. [1]Hierzu übrigens: Grafton, Anthony et al.: The Classical Tradition, Cambridge (MA) 2010; oder Andreae, Bernhard: Laokoon und die Kunst von Pergamon – die Hybris der Giganten, Frankfurt 1991.
  2. [2]Falkner, Gerhard: so beginnen am körper die tage. gedichte, Darmstadt 1981.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert