Wiedergelesen – Folge 22: »Was ist die Antwort« (Über die Lyrik von Elisabeth Borchers)

Literatur ist vergänglich, auch wenn sie sich, wie jede Kunst, gegen ihre Vergänglichkeit zur Wehr setzt. Trotzdem entschwinden Bücher in Archivbibliotheken. Auf einmal gehören sie nicht mehr zu unserem Erfahrungshorizont. Erich Jooß stellt an jedem 15. des Monats vergessene Lyrikveröffentlichungen in seiner Rubrik »Wiedergelesen« vor, die bewusst unsystematisch angelegt ist. Entdeckerfreude und persönliche Vorlieben sind ihm als Kolumnist von DAS GEDICHT blog wichtiger als literaturhistorische Zensuren.

 

Einmal, ganz am Anfang ihrer Schriftstellerkarriere, löste Elisabeth Borchers einen handfesten Skandal aus. Das war 1960, als auf der Feuilletonseite der »Frankfurter Allgemeinen« das Gedicht »eia wasser regnet schlaf« publiziert wurde und wochenlang zu einem literarischen Glaubenskrieg unter den Lesebrief-Schreibern führte – damals konnte man sich noch aufregen über ein Gedicht. »eia wasser regnet schlaf« ist, folgt man der rückblickenden Bewertung von Jürgen Becker, ein sanft surrealistischer »Kinder-Sing-Sang«, der gleichzeitig eine bedrohliche Note anschlägt: »es kommt es kommt / ein fremder«. War dieser Fremde vielleicht sogar ein ertrunkener Matrose? Jedenfalls schmuggelte Elisabeth Borchers gegen alle Erwartungen, die noch immer mit der Kinderlyrik verbunden sind, den Tod in ihr Gedicht, kontaminierte das Schlaflied durch den endgültigen Schlaf, setzte Unruhe und Angst gegen die Schönheit der Sprache, gegen ihren meditativen Fluss. »Gedichte«, so lapidar betitelte sie ihren ersten Lyrikband, der 1961 bei Luchterhand herauskam und gleich mit dem Skandalgedicht begann. Dessen Verse gaben auch die Tonlage des Buches vor, die spezifische Bilderwelt. Nicht ohne Grund sprach Jürgen Becker fünfzehn Jahre später von einer »Flucht in Spiel- und Märchenräume«; sogar das Wort »Versteck« fällt in seinem Nachwort zu einer Sammlung mit Gedichten von Elisabeth Borchers, erschienen als Band 509 der Bibliothek Suhrkamp. In dieser ersten Phase ihres lyrischen Schreibens überwogen die suggestiven Assoziationen. Mit traumwandlerischer Sicherheit tauchte die Dichterin in Welten jenseits unserer Alltagswelt ein, ohne dabei jedoch die Bodenhaftung zu verlieren.

Die Leser von Elisabeth Borchers, die auf neue Gedichte von ihr warteten, mussten sich gedulden. Meistens dauerte es sechs Jahre, manchmal auch länger, bis sie einen weiteren Lyrikband auf den Markt brachte. Das hatte mit ihrer zeitintensiven Lektoratsarbeit und Herausgebertätigkeit zu tun, anfangs für Luchterhand, dann für Suhrkamp/Insel, wo sie sich – ähnlich wie Rainer Malkowski – als Anthologistin an thematisch und literarisch unkonventionelle Zusammenstellungen wagte. Dabei galt ihr Interesse weiterhin dem Märchen. Gleichzeitig blickte sie über den Tellerrand der deutschen Literatur hinaus und verschaffte so unterschiedlichen Autoren wie Wladimir Majakowski oder Marguerite Duras Aufmerksamkeit. Und immer wieder überraschten neben all den Titeln zum Advent, für Geburtstage und für das Poesiealbum auch Bücher von Marie Luise Kaschnitz, die Elisabeth Borchers gegen den Trend protegierte. Hartnäckig versuchte sie, das Werk dieser großen Kollegin im literarischen Gedächtnis zu halten.

Wer die schriftstellerische Arbeit von Elisabeth Borchers würdigt, darf ihre Bücher für Kinder keinesfalls übersehen. Besonders die lyrisch aufgeladenen Bilderbuchtexte – stellvertretend sei hier nur genannt »Und oben schwimmt die Sonne davon« (1965) – waren in den sechziger und siebziger Jahren wegweisend und haben sich ihre anspruchsvolle Originalität und ihre poetische Frische bis heute bewahrt, obwohl nicht alle Illustratoren/Illustratorinnen das Erzählte kongenial in Bilder übersetzten. 1976 erhielt Elisabeth Borchers zusammen mit Wilhelm Schlote den Deutschen Jugendbuchpreis für »Heute wünsch ich mir ein Nilpferd«. Zu meinen Lieblingsbüchern zählt immer noch »Das große Lalula und andere Gedichte und Geschichten von morgens bis abends für Kinder« (1971 bei Ellermann und 1974 als Insel-Taschenbuch). Dort bin ich zum ersten Mal auf den grandiosen Text »Schöner Schnee« gestoßen, der später auch für ein Bilderbuch adaptiert wurde. Soll man diese »Beschreibungsorgie«, die sich über acht Seiten erstreckt, ein Gedicht nennen? Ich weiß es nicht und ich vermute, auch die Autorin hat sich diese Frage nicht gestellt. Ihr Text ist ein bildersüchtiger, höchst disparater Versuch, das Unbeschreibbare des Schnees zu beschreiben, sich seiner Wirklichkeit in immer neuen Anläufen anzunähern: »Schnee ist leichter als ein Sommerkleid. / Der Schnee biegt die Bäume krumm.« Oder: »Schnee ist die leiseste Geschichte der Welt.« Dieses sprachmagische Exerzitium ignoriert souverän alle pädagogischen Befindlichkeiten. Es will die Kinder nur mit der Poesie vertraut machen, nichts mehr und nichts weniger, und Elisabeth Borchers dachte dabei zuallerletzt in den Kategorien des Marktes: »Es gibt Bücher, denen es lästig wäre, an eine Altersstufe gebunden zu sein.«

Der von Jürgen Becker 1976 herausgegebene Sammelband »Gedichte« markiert eine Wende im Schaffen von Elisabeth Borchers. Er enthält die ersten beiden Lyrikbände der Autorin, wobei einige Texte bearbeitet und leicht verändert wurden. Im dritten Teil des Buches stehen dann ausschließlich neue Gedichte, die zurückhaltender sind, nicht mehr so radikal dem Klang vertrauen, sondern eher sprachskeptisch vorgehen, nahe an der Prosa. Diese neuen Gedichte haben etwas Sprödes, Vorsichtig-Tastendes und Suchend-Genaues, das gerade dadurch poetisch wird. Es sind Texte mit Widerhaken, mit Brüchen. Einen guten Einblick in das Werk von Elisabeth Borchers gibt auch das suhrkamp taschenbuch 3231 »Alles redet, schweigt und ruft«, das 2001 zum 75. Geburtstag der Autorin erschienen ist. Die Texte des Bandes wählte Arnold Stadler aus. In seinem Nachwort, einer literarischen Liebeserklärung, stellt er die alte Aufsatzfrage, welche Bücher er auf eine Insel mitnehmen würde und antwortet darauf ohne Zögern: die Gedichte von Elisabeth Borchers, »die nähme ich mit auf die Insel.« Aufhorchen lässt seine Begründung: Stadler entdeckt in dieser Lyrik »den Schmerz als Grund-Riß« und, noch bemerkenswerter, auf der Höhe solcher Gedichte sei, so schreibt er, »nicht alles verloren, wenn alles verloren ist«, nicht alles vorbei, »wenn alles vorbei ist…« Das kann man (und Stadler kennt den Einwand) als die typische Kontingenzstrategie eines Theologen abtun. Für mich sind diese Sätze aber wie kaum andere ein Schlüssel zum Verständnis des Werkes von Elisabeth Borchers…

Zu Lebzeiten der Dichterin erschienen neun selbständige Lyrikbände, nicht viel, wenn man berücksichtigt, dass in die Zahl auch schon die Auswahlbände eingerechnet sind. Nach dem Tod von Elisabeth Borchers im Jahr 2013 hat sich Suhrkamp/Insel, so mein Eindruck, eher unauffällig um ihr Oeuvre gekümmert. Vielleicht passt es auch nicht mehr in das Profil des Hauses, für dessen Weltläufigkeit und literarische Dialogfähigkeit sie so viel getan hatte. Unter ihren Lyrikveröffentlichungen schätze ich den Band »Was ist die Antwort« (Suhrkamp 1998) ganz besonders. Schon in der zweiten Zeile des titelgleichen Gedichts lässt Elisabeth Borchers keinen Zweifel daran, dass die Leser endgültige Aussagen von ihr nicht erwarten dürfen: »Was ist die Frage«. Mein Exemplar des Buches hat eine handschriftliche Widmung, versehen mit der letzten Strophe aus dem Gedicht »Des Malers Ernst Meister blühender Baum«: »Wie schön muss der Himmel sein / Daß ihn der Maler derart / zu verstecken weiß«. Immer wieder kommt Elisabeth Borchers auf diesen Himmel zu sprechen, rühmt »Nerudas Blau« oder äußert in dem Gedicht »Zweifel« die vorsichtige Hoffnung: »Jenseits der Wolken / Vielleicht / Das Licht«. Manche Leser überraschen, sogar irritieren dürfte die lyrische Einkreisung des Heimatbegriffs: »Heimat ist wo wir waren / oder sein werden ist nicht Krieg / wo der Knopf an der Jacke nicht fehlt / wo die Suppe noch warm ist // Heimat ist ein kurzer Satz / ein langer Satz ein Vers / ein Wort ein Amen«. Der Band endet mit einer autobiographisch eingefärbten Reflexion des Gedichts »Reden wir nicht mehr von Landschaft«. Darin stößt man auf den programmatischen Satz: »Ein Gedicht ist nicht diktierbar. Es setzt nicht Kenntnisse voraus, sondern Erfahrung. « In dem Band »Lichtwelten. Abgedunkelte Räume« (edition suhrkamp 2324) liefert die Dichterin viele Belege dafür. Die Frankfurter Poetikvorlesungen aus dem Sommersemester 2003 entwerfen alles andere als eine in sich geschlossene Poetik. Stattdessen machen sie mit der Kindheit und dem Lesehorizont der Dichterin vertraut und lassen erahnen, warum Elisabeth Borchers in ihren Gedichten – wie so viele Dichter vor ihr – so häufig die Vergänglichkeitsklage anstimmte: »Wo immer sie auftritt, mit kleinen oder großen Gesten, selbst dort, wo es um das höchste Amt auf Erden geht, ist die Vergänglichkeit der nicht zu tilgende Makel.«

 

Dr. Erich Jooß. Foto: Volker Derlath
Dr. Erich Jooß. Foto: Volker Derlath

»Wiedergelesen« wird Ihnen von Erich Jooß präsentiert. Der Schriftsteller aus Höhenkirchen veröffentlicht neben eigenen Lyrikbänden auch Lyrikanthologien, Bilderbücher und Erzählbände. Jooß ist Vorsitzender des Medienrats in Bayern und Vizepräsident der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Zuletzt erschien von ihm »Am Ende der sichtbaren Welt« (Verlag St. Michaelsbund, München 2011).

Alle bereits erschienenen Folgen von »Wiedergelesen« finden Sie hier.

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