Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).
Im Jahre 2017 sind allein in Deutschland 932.272 Menschen gestorben. Angenommen, es würde um jeden verstorbenen Menschen nur fünf Menschen trauern, die selbst wiederum nur einen Sterbefall im Jahre 2017 erleben mussten, so waren 4.661.360 Menschen in Trauer. Das wären ungefähr 5% der deutschen Bevölkerung. So abstrakt und unwirklich uns diese Zahlen erscheinen, so irritierend, dass der Tod aus dem normalen Lebensvollzug ausgeklammert wird, trotz – oder wegen – der eigenen, unweigerlichen Sterblichkeit. In Kontakt treten mit dem eigenen Tod klingt wenigstens für Mitteleuropäer wie ein pathologischer Todeswunsch, der behandelt werden sollte. Welch seltsame Ignoranz, die sich seit der Herausgabe der Anthologie „Der Tod ist in der Welt“ von Inge und Erich Jooß im Jahre 1993 wohl kaum verändert haben dürfte. Die – angeblich – stille und besinnliche Zeit darf uns dienen, einmal dem Tode eingedenk zu werden, denn wer das neugeborene Leben feiert, der kann den Tod nicht mitmeinen?
Diese rhetorische Frage zeigt bereits an, dass Gedichte über den Tod in aller Regel um ihr Verhältnis zum Leben ringen und etwas verquere Weisheit vonnöten ist. Er ist entsetzlich, er führt uns in Ausnahmesituationen, wenn zum Beispiel ein lieber Mensch für scheinbar eine Ewigkeit aus unserem Leben genommen wird. Wir weinen und verzweifeln an ihm. Er ist auch nach geltendem Recht mancher Staaten dieser Welt eine Höchststrafe, das ultimative Fatum. Er verschlingt die Lebenden. Er scheint eher eine Person, als ein Ereignis zu sein, denn er will etwas von uns. Zugleich kennen wir kein Leben ohne Vanitas. Vergänglichkeit erst ermöglicht Leben. Die Anzahl der Verstorbenen wächst täglich, nur damit neues Leben entstehen kann. Das ist absurd. Darüber lässt sich aber auch lachen, denn: Was soll’s? Meistens kommt er doch auf leisen Sohlen und manchmal ist er sogar ein Befreier. Wenn der Tod wie ein langer, traumloser Schlaf ist, brauchen wir keine Angst vor ihm zu haben. Und wenn er das nicht ist, warum nicht Neugierig sein? So sprach Sokrates in seinen letzten Tagen über ihn.
Inge und Erich Jooß haben ihrer Zeit Gedichte aus vier Jahrhunderten zu einer bunten Anthologie verwoben, die nicht nur Trauerfarben trägt. Wo unsere Rationalität aufhört zu sein, dort kann Kunst besonders viel bewirken und ebendies ist die Stärke dieses Gedichtbandes. Erich Jooß weilt seit etwas mehr als einem Jahr nicht mehr unter den Lebenden, seine Anthologie über den Tod aber hat ihn überlebt. Wer das nun, gerade zur Weihnachtszeit, für geschmacklos hält, dem sei dieser Band Medizin; wer allerdings ein ironisches Schmunzeln nicht verkneifen konnte, dem sei dieser Band Wonne; ist er doch mithin so vielfältig wie das Leben und gewiss jeglicher kalten Statistik fern.
Inge und Erich Jooß (Hrsg.): Der Tod ist in der Welt. Gedichte zu Sterben und Tod.
Mit Zeichnungen von Eva Johanna Rubin
echter Verlag, 1993
Hardcover, 128 Seiten
ISBN: 3-429-01532-4
David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.