Religion und Lyrik – Folge 77: »Värsli zur Uuffahrt«

Die begleitende Netz-Anthologie zu DAS GEDICHT 25,
zusammengestellt und ediert von Anton G. Leitner und José F. A. Oliver

 

Erwin Messmer

Värsli zur Uuffahrt

1

Moorn chunnt ka Zittig
Eersch wider äm Frittig

I dä Noochrichtä hätter
no chaibä schöö Wätter

Virr Tääg a aim Schtugg
Idä Schuel machets p’Brugg

und Ggschäft bliibäd zue
denn isch widermol Rue

Dä Wirtschaft gängs schitter
und p’Fauna chrampft witter

Dä Flider blüet wider
Häsch ’s Portmonee bider?

Kann Schpuntä hätt offä
Log dött däsäb Psoffä

Än Amslä erfindt
gad ä neus Liäd för säb Chind

2

t’Sonn gooht langsam under
I glob doch nöd a Wunder

Än Tschanggi suecht sin Schtoff
Nu Tanggschtell hätt no off

Da chaibä Gloggäggschtürm
vo zweenä Chilätürm

Kan Mensch isch intressirrt
a demm wo gfiirät wirt

Dä Glauben isch väpufft
dä Liäbgott gooht i t’Lufft
 

Verslein zur Himmelfahrt

1

Die Zeitung bleibt morgen aus
Kommt am Freitag erst wieder ins Haus

Im Rundfunk der Wetterbericht
verspricht: So schlimm wird es nicht

Vier Tage Freiheit am Stück
Für Schüler und Lehrer ein Glück

Die Geschäfte machen nun dicht
Es ruht für einmal die Pflicht

Die Wirtschaft auf steilster Leiter
steigt ab ‒ die Fauna kämpft weiter

Der Flieder blüht frisch in den Mai
Hast du den Geldbeutel dabei?

Keine Kneipe hat heute noch offen
Sieh dort jenen Kerl: schon besoffen!

Eine Amsel ‒ hör zu ‒ sie ersinnt
grad ein Liedchen für jenes Kind

2

Die Sonne geht langsam unter
Ich glaube doch nicht an Wunder

Ein Junkie sucht sein Heroin
Im Tankshop gibt’s Bier und Benzin

Verdammt dieses Bimmeln und Stürmen
herab von zwei Kirchentürmen

Kein Mensch zeigt sich interessiert
an dem was gefeiert wird

Der Glaube ist verpufft
Und Gott geht in die Luft
 

Nachdichtung aus dem St. Galler Dialekt von Erwin Messmer.
 

Verslein zur Himmelfahrt

1

Morgen kommt keine Zeitung
Erst wieder am Freitag

In den Nachrichten hat er
noch ziemlich schönes Wetter

Vier Tage an einem Stück
In der Schule machen sie die Brücke

und die Geschäfte bleiben zu
dann ist wieder mal Ruhe

Der Wirtschaft gehe es erbärmlich
und die Fauna kämpft weiter

Der Flieder blüht wieder
Hast du den Geldbeutel bei dir?

Keine Kneipe hat offen
Sieh dort jenen Besoffnen

Eine Amsel erfindet
grad ein neues Lied für jenes Kind

2

Die Sonne geht langsam unter
Ich glaube doch nicht an Wunder

Ein Junkie sucht seinen Stoff
Nur die Tankstelle hat noch offen

Das verfluchte Glockengestürm
von zwei Kirchentürmen

Kein Mensch ist interessiert
an dem was gefeiert wird

Der Glaube ist verpufft
Der liebe Gott geht in die Luft
 

Interlinearübersetzung aus dem St. Galler Dialekt von Erwin Messmer.
 

© Erwin Messmer, geboren 1950, lebt in Bern (Schweiz).
 

»Religion & Lyrik« im Archiv

DAS GEDICHT 25: Religion im Gedicht

Den Kernbestand neuer zeitgenössischer Lyrik rund um den Glauben versammelt
»DAS GEDICHT 25: Religion im Gedicht«,
herausgegeben von Anton G. Leitner und José F. A. Oliver

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