Neugelesen – Folge 35: Jannis Ritsos »Das letzte Jahrhundert vor dem Menschen«

Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).

 
 
Wann endete das letzte Jahrhundert vor dem Menschen? Fragt man die Anthropologie, die Religionen oder die Biologie, wird man unterschiedliche Antworten erhalten. Keine davon ist in dem Gedichtzyklus von Jannis Ritsos zu finden. Wie viele Menschen wissen eigentlich, dass Griechenland ebenfalls vom nationalsozialistischen Deutschland besetzt war? Dass es Arbeits- und Konzentrationslager gab, dass Griechenland einen erheblichen Teil seiner Bevölkerung zu beklagen hatte und die deutsche Führung das Land wirtschaftlich ausbluten ließ? Ritsos Gedichtzyklus erinnert sich. Wobei sich erinnern nicht das passende Verb ist. Fiebrige Visionen, Gesichte des Schreckens und der Verlorenheit. Gefühle, Glockenschläge, Brandherde. Alles verschmilzt zu einer zähflüssigen Masse. Worüber denkt man nach, wenn man sich inmitten dieser Geschehnisse verliert? Nicht über Politik, sondern über das Elend. Wie erinnert man sich an diesen Abschnitt zurück, sofern man die Schuld des Überlebenden mit sich trägt, lebenslang? Wie im Traum.

Ritsos Gedichte sind diskret, ahnend, dass Bilder von offenen, toten Leibern das Grauen verstellen. Sie suchen keinen Effekt, sie suchen Rat, sie verwundern. Der nüchterne, prosaische Klang verwischt die Grenzen zwischen Erzählung und Lyrik, weil diese Kategorisierungen Fragen für friedliche Zeiten sind. Ritsos hat für diese Gedichte vergessen, was es noch im neunzehnten Jahrhundert bedeutete, Lyrik zu verfassen. Am Ende des Zyklus offenbart sich Ritsos selbst als Dichter des letzten Jahrhunderts des Menschen. Nach den Entbehrungen und unaussprechlichen Grausamkeiten, die einer 1909 geborenen, mitfühlenden Person widerfahren sind, kann der Mensch vor dem Ende des dritten Reiches noch nicht existieren. Das ist der einzige Schluss, den diese Gedichte zulassen. Dieser Gedanke ist das Vermächtnis dieses Dichters – und nicht nur seines. Dieses Vermächtnis gilt es zu bewahren und immer wieder von Neuem zu lesen.
 
 

"Das letzte Jahrhundert vor dem Menschen" von Jannis Ritsos
Buchcover-Abbildung (Piper Verlag)

 
 
 
 
 
 
 
 
 
Ritsos, Jannis: Das letzte Jahrhundert vor dem Menschen
in: Das letzte Jahrhundert vor dem Menschen. Gedichte
Aus dem griechischen von Niki und Hans Eideneier
Piper, 1988
68 Seiten, Softcover
ISBN: 3-492-10902-0
 
 
 

David Westphal. Foto: Volker Derlath
David Westphal. Foto: Volker Derlath

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.

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