Im babylonischen Süden der Lyrik – FOLGE 78: »AFROBRASILIANISCHE SELBSTBEFREIUNG – MIRIAM ALVES UND LUBI PRATES«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

Im heutigen Brasilien, das sich selbst als friedfertige »Rassendemokratie« versteht, gibt es trotz eines allmählich beginnenden sozialen Aufstiegs der marginalisierten afrobrasilianischen oder Mischlingsbevölkerung die nicht minder brutale Variante der eklatanten Klassendiskriminierung. Das angespannte Klima von politischem Chaos, Korruption und Kriminalität führte zu berüchtigten Exzessen von paramilitärischen Gruppen, die bei nächtlichen Überfällen oder am helllichten Tage als maskierte Todesschwadrone gegen farbige Obdachlose, Favelados und Straßenkinder von Rio de Janeiro losschlugen.

Die schwarze Literatur Brasiliens versteht sich jedoch nicht nur als Waffe dieses auf mehreren Ebenen schwelenden Konfliktes, wie Moema Parente Augel, die Herausgeberin der bemerkenswerten Anthologie mit afrobrasilianischer Dichtung »Schwarze Poesie – Poesia Negra« (Edition diá, Berlin 1993/2013), feststellt.

Moema Parente Augel schrieb darüber anlässlich des ersten Jahrhunderts nach der formellen Abschaffung der Sklaverei durch das »goldene« Gesetz vom 13. Mai 1888 in ihrem begleitenden Essay, in dem sie die Geschichte der afrobrasilianischen Selbstbefreiung zwischen den Stühlen und am Rand der Gesellschaft als eine Wegstrecke voller Widerstände und Widersprüche »zwischen der Ideologie der Weißwerdung, der Assimilation, der Selbstbehauptung und Idealisierung« charakterisiert:

»Die Auseinandersetzung mit sozialer Ungerechtigkeit und Rassendiskriminierung führt einerseits zur Revolte, andererseits aber auch zum Selbstmitleid, zu Ironie und Aggression. Die Suche nach eigenen Wurzeln und der bewusste Rückgriff auf sie werden in der ständig präsenten afrikanischen Thematik ebenso offenkundig wie eine Neuinterpretation der Geschichte der Sklaverei, der in die Neue Welt überführten religiösen Formen, der Musik und ihrer Instrumente, des Rhythmus, der afrikanischen Landschaft und der Solidarität mit den Ländern, die noch heute unter den Folgen des Kolonialismus leiden und zu kämpfen haben. Wichtig sind auch die Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen Hautfarbe, die Selbstbestätigung als Schwarze, das Bewusstsein der sich hieraus ergebenden Abgrenzungen und Zuordnungen … Vor allem aber ist die ›Poesia Negra‹ Ausdruck von Hoffnung und Entschlossenheit, die Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen und von einem Objekt zum Subjekt der eigenen Geschichte zu werden.«

(Moema Parente Augel)

Miriam Alves und Lubi Prates
Die afrobrasilianischen Dichterinnen Miriam Alves (links) und Lubi Prates (Foto: privat)

 

 

 

 

Eine ausdrucksstarke Repräsentantin der schwarzen Frauenpoesie ist die 1950 in São Paulo geborene Miriam Alves. Die Lyrikerin arbeitete als Sozialarbeiterin und gehörte seit den frühen 1980er-Jahren zur legendären Paulistaner Gruppe »Quilombhoje«. In der afrobrasilianischen Poesie sind intelligente Grenzgänge jeder Art keine Seltenheit neben überraschender sprachspielerischer Innovation, Vitalität und Gestaltungskraft. Miriam Alves umreißt die afrobrasilianische Situation und Stimmungslage mit ihrem von Johannes Augel übersetzten Poem »Ouvidos aguçados«.

 

 

 
Miriam Alves

OUVIDOS AGUÇADOS

Ninguém grita o tempo
todo
Ninguém.

O tempo todo não grito
nas manhãs descanso.
     Calo…
Aguço os ouvidos.

 

Miriam Alves

GESCHÄRFTE OHREN

Niemand schreit
die ganze Zeit
Niemand.

Ich schreie nicht die ganze Zeit
morgens ruhe ich aus.
     Schweige…
Schärfe die Ohren.


Übertragen von Johannes Augel

© Miriam Alves

 

Lubi Prates und Miriam Alves
Die afrobrasilianischen Dichterinnen Lubi Prates (links) und Miriam Alves (Foto: privat)

Im Oktober 2018 lernten wir in Uruguay die afrobrasilianische Dichterin, Übersetzerin und Herausgeberin Lubi Prates kennen, die am 7. November 1986 in São Paulo geboren wurde. Sie studierte Psychologie am »Centro Universitário das Faculdades Metropolitanas Unidas« (FMU) in São Paulo, gründete den unabhängigen Literaturverlag »nosotros, editorial« und gibt die Literaturzeitschrift »Parênteses« heraus.

Ihr dritter Gedichtband »um corpo negro« (2018, »ein schwarzer körper«) thematisiert das migratorische Grundgefühl der Entwurzelung, Ausgrenzung, und Hilflosigkeit als Exil:

 

»Und so erblicke ich den Prozess des Schwarzwerdens: Es gibt kein Vorher und kein Nachher. Es findet im Hier und Jetzt statt, geprägt von der Gesellschaft, auch wenn ich mich ihr widersetze und gegen sie angehe.«

 (Lubi Prates)

 

 
Lubi Prates

NÃO FOI UM CRUZEIRO

meu nome e
minha língua

meus documentos e
minha direção

meu turbante e
minhas rezas

minha memória de
comidas e tambores

esqueci no navio
que me cruzou
o Atlântico


Lubi Prates

ES WAR KEINE KREUZFAHRT

meinen Namen und
meine Sprache

meine Dokumente und
meine Adresse

meinen Turban und
meine Gebete

meine Erinnerung an
Familienessen und Trommeln

vergaß ich auf dem Schiff
das mich kreuzte
über den Atlantik


Übertragen von Juana & Tobias Burghardt

© Lubi Prates

 

Die weibliche Stimme innerhalb der brasilianischen Poesie hat sich seit dem »Modernismo« schrittweise emanzipiert wie auch allmählich die afrobrasilianische Stimme.

 

"Posia negra"
Buchcover-Abbildung (Edition diá)

 

 

 

 

 

 

»Schwarze Poesie – Poesia Negra. Afrobrasilianische Dichtung der Gegenwart« bei Edition diá

 

 

"Ein Netz aus Blicken", Hrsg. Tobias Burghardt
Buchcover-Abbildung (Edition Delta)

 

 

 

 

 

»Ein Netz aus Blicken. Essays für lateinamerikanische Lyrik« von Tobias Burghardt bei Edition Delta

 

 

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

 

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Essayist, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018) und sein aktueller Gedichtband »Die Elemente der See« und die umfangreiche Werkauswahl 19912021 »Das Gedächtnis des Wassers«.  2020 erhielt er den Internationalen Poesiepreis »Città del Galateo – Antonio de Ferrariis« in Rom, Italien. Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem »Internationalen KATHAK-Literaturpreis« in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, und als Verlagsteam der Edition Delta mit dem »Deutschen Verlagspreis 2021« des Kulturstaatsministeriums, Berlin, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.


 

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