Im babylonischen Süden der Lyrik – FOLGE 89: »JUAN MANUEL ROCA – ›WÄHREND ICH AUF EINER PARKBANK EINEN GEDICHTBAND VON MARINA ZWETAJEWA LESE‹ UND ›DAS GLEICHNIS DER HÄNDE‹«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

JUAN MANUEL ROCA: »WÄHREND ICH AUF EINER PARKBANK EINEN GEDICHTBAND VON MARINA ZWETAJEWA LESE« UND »DAS GLEICHNIS DER HÄNDE«

 
Ein Dreh- und Angelpunkt der Lyrikszene Kolumbiens und Lateinamerikas ist Juan Manuel Roca, der regelmäßig Poesiewerkstätten leitet, auch schon in den einst besseren Zeiten der »Casa de Poesía Silva« in Bogotá, und seine Gedichte gerne mit Grafiken kolumbianischer oder lateinamerikanischer Künstlerinnen und Künstler veröffentlicht.

Bei Internationalen Poesiefestivals sowohl in Lateinamerika als auch in Europa oder Nordafrika ist Juan Manuel Roca ein hochgeschätzter Gast, der in Asfi, Barcelona, Berlin, Bogotá, Buenos Aires, Caracas, Havanna, Lima, Lissabon, Marrakesch, Medellín, Mexiko-Stadt, Paris oder Santiago de Chile das Publikum mit humorvollen und nachdenklichen Lesungen begeistert, siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 33 und Folge 34.

Dies gelingt ihm durch sein poetisches Zeugesein der Schatten, welche der Mensch und die Welt in Zeit und Raum werfen, wie im aktuellen Auswahlband »Testigo de sombras – Schattenzeuge« aus dem jüngeren Werkschaffen von Juan Manuel Roca.

Der kolumbianische Dichter Juan Manuel Roca
Der kolumbianische Dichter Juan Manuel Roca (Foto: José Ángel Leyva, Mexiko-Stadt / Edition Delta, Stuttgart)

 

Juan Manuel Roca

POSTAL AMARGA DE UN DOMINGO EN EL PARQUE

Mientras leo en una banca del parque un libro de poemas de Marina Tsvetáyeva, un grupo neonazi cruza trotando. Levantan sus brazos para saludar un caudillo invisible como los perros levantan una pata para orinar los hidrantes. Alzan sus brazos necrosados y envilecen el aire. Ya lejos, aún se oyen sus gritos y pujidos y yo vuelvo con una mezcla de enojo y de asco a una línea del libro: «días como babosas que se arrastran».

Parque Nacional, Bogotá, domingo 12 de agosto de 2012

 

 
Juan Manuel Roca

BITTERE POSTKARTE EINES SONNTAGS IM PARK

Während ich auf einer Parkbank einen Gedichtband von Marina Zwetajewa lese, trottet eine Gruppe von Neonazis vorbei. Sie heben die Arme, um einen unsichtbaren Führer zu grüßen, so wie Hunde ein Bein heben, um an einen Hydranten zu pinkeln. Sie heben ihre nekrotischen Arme und verhunzen die Luft. Aus der Ferne hört man noch immer ihr Geschrei und Gezeter, und in einer Mischung aus Wut und Abscheu denke ich an eine Zeile aus dem Buch zurück: »Tage wie kriechende Nacktschnecken«.

Nationalpark, Bogotá, Sonntag, 12. August 2012

 

Übertragen von Juana Burghardt und Tobias Burghardt

© Juan Manuel Roca

 

 
Seine Gedichte wurden ins Arabische, Deutsche, Englische, Französische, Griechische, Italienische, Japanische, Niederländische, Portugiesische, Rumänische, Russische und Schwedische übersetzt. 1997 erhielt er den Ehrendoktortitel der Universidad del Valle und 2014 der Universidad Nacional de Colombia, an der Juan Manuel Roca weiterhin vielbeachtete Poetikvorlesungen und Lyrik-Schreibkurse hält. 2007 wurde sein Werkschaffen mit dem Poesiepreis José Lezama Lima der Casa de las Américas in Havanna und mit dem Premio Poetas del Mundo Latino Víctor Sandoval in Mexiko gewürdigt. 2021 wurde Juan Manuel Roca für sein poetisches Lebenswerk mit dem Premio Vida y Obra der Literaturmetropole Bogotá geehrt.

 

 
Juan Manuel Roca

PARÁBOLA DE LAS MANOS

Esta mano toma un fruto,
La otra lo aleja.
Una mano recibe al halcón, se quita un guante,
La otra lo ahuyenta, prende una antorcha.
Una mano escribe cartas de amor
Que su equívoca siamesa puebla de injurias.
Una mano bendice, la otra amenaza.
Una dibuja un caballo,
La otra, un puma que lo espanta.
Pinta un lago la mano diestra:
Lo ahoga un río de tinta, la siniestra.
Una mano traza la palabra pájaro,
La otra escribe su jaula.
Hay una mano de luz que construye escaleras,
Una de sombra que afloja sus peldaños.
Pero llega la noche. Llega
La noche cuando cansadas de herirse
Hacen tregua en su guerra
Porque buscan tu cuerpo.

 

 
Juan Manuel Roca

GLEICHNIS DER HÄNDE

Diese Hand nimmt eine Frucht,
Die andere hält sie fern.
Eine Hand empfängt den Falken, zieht einen Handschuh aus,
Die andere vertreibt ihn, zündet eine Fackel an.
Eine Hand schreibt Liebesbriefe,
Die ihre irrige Siamesin mit Beleidigungen bevölkert.
Die eine Hand segnet, die andere droht.
Eine malt ein Pferd,
Die andere ein Puma, das es aufscheucht.
Die rechte Hand malt einen See:
Die linke überflutet ihn mit einem Tintenfluss.
Eine Hand zeichnet das Wort Vogel,
Die andere schreibt seinen Käfig.
Es gibt eine Hand aus Licht, die Leitern baut,
Eine aus Schatten, die ihre Sprossen lockert.
Aber die Nacht kommt. Es kommt
Die Nacht, in der sie es leid sind, sich gegenseitig zu verletzen,
Sie schließen einen Waffenstillstand in ihrem Krieg,
Weil sie deinen Körper suchen.

 

Übertragen von Juana Burghardt und Tobias Burghardt

© Juan Manuel Roca


Nach der Veröffentlichung seiner ersten Werkauswahl »Luna de ciegos – Blindenmond« mit früheren Gedichten, liegt jetzt in der Edition Delta die zweite Auswahl »Testigo de sombras – Schattenzeuge« mit neueren Gedichten vor, welche einen weiteren Einblick erlauben, der nachhaltig bestätigt, dass Juan Manuel Roca zu den herausragenden Lyrikern Kolumbiens und Lateinamerikas gehört.

 

"Testigo de sombras – Schattenzeuge" von Juan Manuel Roca bei Edition Delta
Buchcover-Abbildung (Edition Delta)

 

 

 

»Testigo de sombras – Schattenzeuge«
von Juan Manuel Roca
bei Edition Delta

"Luna de ciegos – Blindenmond" von Juan Manuel Roca bei Edition Delta
Buchcover-Abbildung (Edition Delta)

 

 

 

 

»Luna de ciegos – Blindenmond«
von Juan Manuel Roca
bei Edition Delta

 

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Essayist, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte den Essayband »Ein Netz aus Blicken. Essays für lateinamerikanische Lyrik« und mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018), sein aktueller Gedichtband »Die Elemente der See« und die umfangreiche Werkauswahl 19912021 »Das Gedächtnis des Wassers«.  2020 erhielt er den Internationalen Poesiepreis »Città del Galateo – Antonio de Ferrariis« in Rom, Italien. Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem »Internationalen KATHAK-Literaturpreis« in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, und als Verlagsteam der Edition Delta mit dem »Deutschen Verlagspreis 2021« des Kulturstaatsministeriums, Berlin, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.


 

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