Zwei überaus gewichtige Vorbilder, die tief in die deutsche Kultur hineinverwoben sind und doch sehr ungleich daherkommen, haben Christian Dörrs »Hohes Lied« beeinflusst. Zum Ersten und hauptsächlich ist ein zentraler biblischer Text zu nennen, nämlich »Das Hohelied«, als Gegenstück zu ihm, genauer seinem ersten Teil »Das Hohelied Salomos«, als mithin dialogisches Sehnsuchtskomplementär ist »Hohes Lied« angelegt: Verzehrend seufzend sieht, hört, spürt man nun Salomon selbst, und dies nicht weniger gefühlsbeladen, empfindsam, schwärmerisch als Sulamith ihn im Original begehrt – eine so nachvollziehbare wie moderne Ergänzung der Bibelverse. Im Vorbild freilich sind Salomon und Sulamith (deren Name erst im siebten Teil des »Hohelieds« genannt wird und schon dadurch, dass er das weibliche Gegenstück zu Salomon darstellt, die beiden als zueinander gehörig kennzeichnet) bereits ein mythisches Traumpaar. Dörr jedoch nähert die Rollen einander an, bringt sie wahrhaft auf Augenhöhe – und transferiert diese beiden Liebenden, bei aller alt anmutenden Sprache und Motivik, in die nachaufgeklärte Gegenwart.
Dabei weiß er natürlich genau: Sulamith steht (wie Salomon) pars pro toto, also fürs Jüdische an sich. Und ebenso weiß er, dass dieser Name ihn und auch seine Leserinnen und Leser zwangsläufig an Paul Celans »Todesfuge« erinnert, der ebenjene Funktion auch einsetzte sowie verfestigte. In seinem epochalen Gedicht, dass, der musikalischen Form der Fuge sich annähernd, mit Wiederholungen, Versatzstücken, Verschiebungen arbeitet und so eine ungeheure Eindringlichkeit erreicht, klagt er die millionenfache Vernichtung jüdischer Leben in den Konzentrationslagern, in den Gaskammern und Verbrennungsöfen der Nazis an. Und hat den Ermordeten ein ebenso würdiges wie berührendes, ja erschütterndes Denkmal gesetzt.
In »Hohes Lied« schwingt dadurch bei aller Romantik auch das Grauen untergründig mit. Und die Vergeblichkeit – denn während Sulamiths Verse noch von einer Erfüllung ausgehen, sind Salomons von ihrer Unmöglichkeit bestimmt. In den liedhaften Wiederholungen, die freilich auch ganz zum Titel von Vor- wie Nachbild passen, findet sich zudem ein stiller, ein leiser Abglanz der Fugenthematik.
Nachfolgend nun zu den Vorbildtexten im Original – die »Todesfuge« von Paul Celan findet sich urheberrechtskonform etwa auf Lyrikline: https://www.lyrikline.org/de/gedichte/todesfuge-66
Und »Das Hohelied«, dessen erster Abschnitt nachfolgend auch wiedergegeben steht, ist etwa hier (im Internetauftritt der Uni Innsbruck) komplett nachzulesen: https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/bibel/hld1.html
Das Hohelied Salomos
(nach der Bibel in Einheitsübersetzung)
Mit Küssen seines Mundes bedecke er mich.
Süßer als Wein ist deine Liebe.
Köstlich ist der Duft deiner Salben,
dein Name hingegossenes Salböl;
darum lieben dich die Mädchen.
Zieh mich her hinter dir! Lass uns eilen!
Der König führt mich in seine Gemächer. Jauchzen lasst uns, deiner uns freuen,
deine Liebe höher rühmen als Wein.
Dich liebt man zu Recht.
Braun bin ich, doch schön,
ihr Töchter Jerusalems, wie die Zelte von Kedar,
wie Salomos Decken.
Schaut mich nicht so an,
weil ich gebräunt bin.
Die Sonne hat mich verbrannt. Meiner Mutter Söhne waren mir böse,
ließen mich Weinberge hüten;
den eigenen Weinberg konnte ich nicht hüten.
Du, den meine Seele liebt,
sag mir: Wo weidest du die Herde?
Wo lagerst du am Mittag? Wozu soll ich erst umherirren
bei den Herden deiner Gefährten?
Wenn du das nicht weißt,
du schönste der Frauen, dann folge den Spuren der Schafe,
dann weide deine Zicklein
dort, wo die Hirten lagern.
Mit der Stute an Pharaos Wagen
vergleiche ich dich, meine Freundin.
Schön sind deine Wangen zwischen den Kettchen,
dein Hals in der Perlenschnur.
Machen wir dir noch goldene Kettchen,
kleine Silberkugeln daran.
Solange der König an der Tafel liegt,
gibt meine Narde ihren Duft.
Mein Geliebter ruht wie ein Beutel mit Myrrhe
an meiner Brust.
Eine Hennablüte ist mein Geliebter mir
aus den Weinbergen von En-Gedi.
Schön bist du, meine Freundin,
ja, du bist schön.
Zwei Tauben sind deine Augen.
Schön bist du, mein Geliebter, verlockend.
Frisches Grün ist unser Lager,
Zedern sind die Balken unseres Hauses,
Zypressen die Wände.