Im babylonischen Süden der Lyrik – Folge 2: »Un poema salva un día: Der vertikale Blick von Roberto Juarroz (1925–1995)«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

Heute vor neunzig Jahren, am 5. Oktober 1925, wurde Roberto Juarroz in Coronel Dorrego (Provinz Bahía Blanca, Argentinien) als drittes Kind des örtlichen Bahnhofsvorstehers geboren – an der Südverbindungsstrecke von Patagonien über den Verkehrsknotenpunkt Bahía Blanca nach Buenos Aires. Im aktuellen Juarroz-Jahr 2015 sind es zwei runde Jubiläen, die an den großartigen lateinamerikanischen Dichter und Denker erinnern, der in den Jahren 1958 bis 1965 die für Lateinamerika einflussreiche Zeitschrift »Poesía = Poesía« herausgab und drei Jahrzehnte lang Bibliothekswissenschaften an der Universität Buenos Aires lehrte, zweimal aus politischen Gründen unterbrochen, die ihn vorübergehend ins Exil nach Venezuela und Bolivien führten. Vor zwanzig Jahren, am 31. März 1995, starb Roberto Juarroz auf dem Höhepunkt seines Werkschaffens in Buenos Aires, nachdem er seit einem längeren Zeitraum schwer erkrankt und auf regelmäßige Dialysebehandlung angewiesen war. In seiner paradoxen Wortwahl war es im diesjährigen Frühjahr der zwanzigste »Geburtstag« seines Todes.

Roberto Juarroz»Roberto Juarroz schreibt mit einer bestürzenden Klarheit über die großen Fragen und wie sie in der Sprache erscheinen. Eine Mischung aus Mystik und Klarheit, von Philosophie und von Anschauung durchtränkt, ein intellektuelles und hohes sinnliches Vergnügen.« (Michael Krüger)

Ihm verdanken wir unvergessliche Gedichte, überraschenden Wendungen im poetischen Denken und einprägsame Verse. Dazu gehört das Motto der Zeitschrift DAS GEDICHT: »Ein Gedicht rettet einen Tag«. Es stammt aus seinem durchnummerierten Werk »Vertikale Poesie«, genauer gesagt: aus dem Band »Dreizehnte vertikale Poesie«, und ist dort das Gedicht 21.

Roberto Juarroz

Decimotercera poesía vertical (21)

Un poema salva un día.

¿Podrán varios poemas
salvar la vida entera?
¿O es suficiente sólo uno?

Todo aquello que salva
plantea este dilema.
Resolverlo es la llave
del azar de salvarse.
 

Dreizehnte vertikale Poesie (21)

Ein Gedicht rettet einen Tag.

Werden mehrere Gedichte
das ganze Leben retten können?
Oder reicht allein eins aus?

All jenes, was rettet,
wirft dieses Dilemma auf.
Es zu beheben, ist der Schlüssel
für den Zufall der Selbstrettung.

Ins Deutsche übersetzt von Juana und Tobias Burghardt
 

Im Übergang der 1980er zu den 1990er Jahren war ich Herausgeber der Stuttgarter Zeitschrift für Essayistik und Dichtung DELTA, in der seine zeitnah geschriebenen Gedichte, die meine Frau Juana und ich damals ins Deutsche übertragen hatten, zweisprachig veröffentlicht wurden. Wir begegneten ihm daraufhin persönlich mit seiner Frau Laura Cerrato, die selbst Lyrikerin, Literaturwissenschaftlerin und Beckett-Forscherin ist, in einem Caféhaus mitten im Zentrum von Buenos Aires und sprachen über die erste deutschsprachige Werkauswahl »Vertikale Poesie 1958-93« in der Edition Delta, die ihn hierzulande weithin bekannt machen sollte – und danach zu einer Inspirationsquelle in der hiesigen Literatur- und Kunstszene, insbesondere für Komponisten und Lyrikschaffende quer durch alle Generationen.

»Einfach wunderbar klare Gedichte, Nähe und Weite in einem, worin alles ineinander übergeht, die Einsamkeit eine Prüfung der Wirklichkeit ist, mit dem Gedanken etwas geöffnet wird zwischen dem Wort und der Stille. Eine Philosophie des Blickes, der sich beim Schauen selber erschafft. Poesie des Alltags, wenn die Dinge in ihre Anwesenheit fliehen, Lichttheorien, einen das Sehen lehren: ›Eine brennende Lampe/ mitten am Tag,/ ein verlorenes Licht im Licht‹.« (Walle Sayer)

Im Herbst 2014 startete nun die Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe mit den beiden zweisprachigen Doppelbänden »VERTIKALE POESIE & ZWEITE VERTIKALE POESIE – POESÍA VERTICAL & SEGUNDA POESÍA VERTICAL«, (Edition Delta, Stuttgart, ISBN: 978-3-927648-51-7) und »DRITTE VERTIKALE POESIE & VIERTE VERTIKALE POESIE – TERCERA POESÍA VERTICAL & CUARTA POESÍA VERTICAL« (Edition Delta, Stuttgart, ISBN: 978-3-927648-53-1) mit einem Brief von Julio Cortázar. 2015 folgte der dritte zweisprachige Doppelband, womit alle 473 Gedichte der sechs Einzeltitel seines Frühwerks aus den Jahren 1958-1975 zum vertiefenden Kennenlernen vorliegen.

Roberto Juarroz

QUINTA POESÌA VERTICAL (51)

Me visitó una nube.
Y me dejó al marcharse
su contorno de viento.

Me visitó una sombra.
Y me dejó al marcharse
el peso de otro cuerpo.

Me visitó una ráfaga de imágenes.
Y me dejó al marcharse
la irreligión del sueño.

Me visitó una ausencia.
Y me dejó al marcharse
mi imagen en el tiempo.

Yo visito la vida.
Le dejaré al marcharme
la gracia de esos restos.
 

FÜNFTE VERTIKALE POESIE (51)

Mich besuchte eine Wolke.
Und sie überließ mir beim Fortziehen
ihren Windumriss.

Mich besuchte ein Schatten.
Und er überließ mir beim Fortziehen
das Gewicht eines anderen Körpers.

Mich besuchte eine Böe Bilder.
Und sie überließ mir beim Fortziehen
die Unreligion des Traums.

Mich besuchte eine Abwesenheit.
Und sie überließ mir beim Fortziehen
mein Bild in der Zeit.

Ich besuche das Leben.
Ich werde ihm bei meinem Fortziehen
die Anmut jener Reste überlassen.

Ins Deutsche übersetzt von Juana und Tobias Burghardt
 

Der mexikanische Dichter, Essayist und Nobelpreisträger Octavio Paz nannte ihn seinerzeit eine »einzigartige Stimme des 20. Jahrhunderts«, seine Poesie bezeichnete er als »Geologie des Seins« und »Astronomie des Geistes«, während der spanische Lyriker und Nobelpreisträger Vicente Aleixandre die »vertikale Blickrichtung« von Roberto Juarroz so charakterisierte: »Poesie einer glühenden Transparenz«. Für den argentinisch-französischen Schriftsteller Julio Cortázar zerfällt »jede prosaische Sicht in Stücke angesichts dieser gesamten Aneignung des Daseins durch die Poesie«, seine Gedichte gehören für ihn »zum Höchsten und Tiefsten, das in diesen Jahren in der spanischen Sprache geschrieben wurde«.

Roberto Juarroz selbst fasst sein poetologisches Konzept so zusammen: »Die Dinge als erste und letzte Dinge zu nehmen, das ist es, was meiner Ansicht nach jene unerklärliche Regung ausmacht: die Poesie. Daher kommt die Idee der Vertikalität. Wenn das stimmt, muss man in sich selbst eine Art Empfänglichkeit schaffen, die mehr oder weniger dauerhaft ist, um diese Momente zu erkennen oder diese Augenblicke wiederzuerkennen, in denen die Sicht deutlicher wird und ein Bild oder eine unerwartete Wendung des Geistes uns sagt, dass dieser Moment der Moment des Gedichts ist.«

Roberto Juarroz: »FÜNFTE VERTIKALE POESIE & SECHSTE VERTIKALE POESIE – QUINTA POESÍA VERTICAL & SEXTA POESÍA VERTICAL«. Roberto Juarroz
FÜNFTE VERTIKALE POESIE & SECHSTE VERTIKALE POESIE – QUINTA POESÍA VERTICAL & SEXTA POESÍA VERTICAL

Aus dem argentinischen Spanisch von Juana & Tobias Burghardt
Edition Delta, Stuttgart 2015
Softcover, 373 S.
€ 20,- (D)

»FÜNFTE VERTIKALE POESIE & SECHSTE VERTIKALE POESIE – QUINTA POESÍA VERTICAL & SEXTA POESÍA VERTICAL« bei Edition Delta kaufen

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, zuletzt »Septembererde & August-Alphabet« (2010). Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Portugal, Serbien, Schweden und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkausgabe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.

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