rezensiert von Paul-Henri Campbell
Nina Russo Karcher »Die Uhr hat die Zeit vergessen | L’orologio dimentico del tempo«
Nina Russo Karcher ist eine gebürtige Sizilianerin. Ihr Gedichtband »Die Uhr hat die Zeit vergessen« liegt als Paralleltextausgabe vor und der Übersetzer Fausto Romanato hat dazu das italienische Pendant beigesteuert, »L’orologio dimentico del tempo«. Die Dichterin entwickelt ein Thema, das im Grunde Weisheit erfordert – nämlich das Altern. So hat sie ein Buch geschrieben für Menschen, die täglich mit alten Menschen zu tun haben, sie in Altenheimen besuchen, dort mit ihnen umgehen oder arbeiten; darüber hinaus ist es eine Anklageschrift für die geriatrische Amnesie, die Altenvergessenheit, unter der moderne Zivilisationen leiden.
Bevor wir uns aber einige Probebohrungen zu diesen Gedichten zu Gemüte führen, sei eine kleine Personalie vorangestellt. Nina Russo Karcher ist 1970 im sizilianischen Cattolica Eraclea geboren. Ihre Familie zieht nach Deutschland, als sie noch ein Kind ist. Auf ihrer Autorenwebseite findet sich ein biographischer Abschnitt. Er ist illustriert mit zahlreichen Bildern und zeugt von einer gewissen Beschäftigung mit dem, was man die Herkünftigkeit des Selbst nennen mag. Es ist die vage Odyssee nach der gesuchten, traumbewohnten, aber vielleicht nie in Besitz genommenen Heimat ihres Herzens, nämlich jenes mediterrane Gebiet, über das Goethe einmal behauptete, es sei »der Schlüssel zu allem«[1], und wo, wie uns Cicero erinnert, es kaum eine Stadt gibt, die nicht Aeneas selbst gegründet hätte. Sizilien, Schlüssel, dessen Schlösser verschlossen sind im unerforschlichen Grund des Mythos. Wir haben es mit einer Autorin zu tun, die in jeder Geste ihrer Expressivität uns zeigt, wie sehr sie doch auf der Suche ist nach dem, was sie ist, und auf diesem Weg uns demonstriert, wie sie den Menschen, in diesem Fall den gealterten, in Abhängigkeit geratenen Menschen, als Greisen sieht. Gewiss, Nina Russo Karcher gehört nicht zum monotonen Block jener Geistes- und Literaturwissenschaftsstudenten, die sich der Dichtung zugewandt haben.
So kann es uns nicht verwundern, wenn das Thema von Nina Russo Karchers Gedichten (das Altern) eingetaucht ist in den Schatz persönlicher Erfahrung, die plötzlich wie erschrocken aufs Blatt schaut beim Anblick des Malstroms des Zweifels, dem wankelmütigen Zaudern vor den Wirklichkeiten, die einige Worte zu schaffen vermögen, wie in ihrem Gedicht »Das Meer«: »Jeder Tropfen / ein Wirbelsturm / den ich nicht wagte«. Und heißt es denn nicht am Ende von Guiseppe Tomasi di Lampedusas Roman »Der Leopard« in der Stunde, da der alte Fürst stirbt: »Jemand fühlte ihm den Puls; vom Fenster her blendete ihn der erbarmungslose Widerschein des Meeres«?
Kosmos Altenheim, ein paralleles Universum
Karchers Gedichtband ist ein Buch über die Verzweiflung der letzten Monate und Jahre des Lebens sowie ein Zeugnis für die Güte der Jahre, die einem Leben geschenkt sind: »Mit der Sonne / kommen / meine Schritte zu dir // Nun betrete ich diesen Raum // Ich stehe an deinem Bett / es ist Sommer // Deine Augen versuchen / zu erkennen // Was du schon lange / losgelassen hast // Ich berühre / deine Hand spüre / deinen Winter«[2]. Was die relative Schlichtheit dieser Texte so überzeugend macht, liegt in dem Detailreichtum, mit dem uns das Biotop Altenheim präsentiert wird, und der Atmosphäre einer permanenten Anteilnahme, die diesen Detailreichtum umfängt und in der subjektiven Stimme des Lyrischen eine Gestalt gewinnt. »Heute ist Duschtag / ruft eine laute Stimme / Licht stürzt ein in mein Zimmer« oder, wie es in einem anderen Gedicht heißt »Diese unendliche Stange / an der Wand // Zieht Rollstuhlfahrer / ein Stückchen vorwärts // Die kranken Alten / krallen sich an ihr fest // Auf meinem Sterbeweg / diese unendliche Stange«.
Nina Russo Karcher führt den Leser durch alle Winkel und Wirrsale dieses Ortes der Entropie – in die Speisesäle des Altenheims, seine kargen, standardisierten, hygienischen Zimmer, die medizinisch verordneten Bastelstunden, aber auch – sehr berührend – die kaum zugänglichen, weil stummgeschalteten Innenräume der Bewohner, der in Pflege gegebenen Alten. »Der endlose Gang / eine blühende Wiese // Wie damals / das Mädchen«. Wir befinden uns in einem auf Permanenz geschalteten Vergangenheitsmodus, eine präsentische Retrospektive in einer Endlosschleife: »Die Alten sitzen / beisammen / reden wirres Zeug // Keiner will die / Geschichten / der anderen hören / doch sie sind ihnen ausgeliefert«. Den Geschichten der Vergangenheit ausgeliefert sein, so sehr man auch dem Nächsten ausgeliefert ist, der aus nichts anderem besteht als aus Vergangenheit, zu der man selbst keinen Bezug hat.
Sodann aber auch die surreale Wirklichkeit und Tatsächlichkeit dessen, was vorgeht unter dementen, verwirrten, bedürftig gewordenen Menschen: »Die kleine alte Dame / lächelt / bittet mich // Ihre Tochter / anzurufen sie hat / keine Tochter«. Doch gleich mit diesen Schilderungen, fühlt man sich seltsam betroffen vom lyrischen Ich, das nicht anders kann als seine Betroffenheit selbst zu artikulieren, eine Betroffenheit, die sich erst als Artikulation auch zu einem Dokument des Schmerzens macht, der durch die Bezeugung solcher Lebensvollzüge verursacht wird: »sie lag im Bett schlafend / mit offenem Mund // Die Blumen auf dem Nachttisch verfault«.
Salutonormativität
Ich nenne salutonormativ eine Perspektive, die Gesunde einnehmen in ihrer Konstruktion und Strukturierung der Welt.[3] Sämtliche Normen der Welt sind geprägt vom der schamlosen Selbstverständlichkeit derer, die sich naiver, unversehrter Gesundheit erfreuen. Die Gedichte von Nina Russo Karcher sind situiert in einem starken Bewusstsein von den Bruchstellen in der eindimensionalen Welt der Gesunden: »Endlose Gänge / offene Türen / Pflegerinnen / hasten ihrem / Pflegeplan / hinterher // Kein Ort / unbequem zu / werden // Es herrschen die Gesetze / der Gesunden // Einatmen / Ausatmen / am Leben sein«. Das Bewusstsein vom Fragilen am Menschen, seine Verletzlichkeit, verleiht Karchers Gedichte häufig den Ton der Anklage, der Empörung, auch des Zynischen: »Die Welt durch / aneinandergereihte / Stäbe // Dem Todesgestank / entkommen // Die gelebten Tage / zornig / loslassen«.
Der Gedichtband »Die Uhr hat die Zeit vergessen« ist angefüllt von der ganzen Hässlichkeit einer zweiten Unmündigkeit im Alter, dem Leben im Heim, den teilweise unpersönlichen und gleichsam sorgenden Asymmetrien zwischen Pflegern und Gepflegten im sinkenden Licht der Existenz: »Jeden Tag kommt / die Pflegerin / in mein Zimmer // Ich höre wie sie / zu mir spricht // Jeden Tag schaue / ich durch / dieses Fenster // Tageslicht das mir / nicht mehr gehört / Ich kann mich / nicht mehr bewegen / es schmerzt // Jede dritte Stunde / werde ich gedreht // Damit ich / nicht wund / werde«. Wir sind hier konfrontiert mit einem Ton, der halb im Stil der Reportage und halb in der Reverie steckt. Hier eben der routinierte, dreistündige Schutz vor dem Dekubitus, inszeniert als eine leibliche Erfahrung zwischen zwei Menschen, die einerseits aus Bedürftigkeit und andererseits aus Professionalität zusammengebracht worden sind und dennoch eine seltsame Begegnung miteinander haben: »Ich höre wie sie / zu mir spricht«. Es ist nicht erforderlich mit einer vielleicht geistesabwesenden Person zu sprechen, die in ihrem Zimmer künstlich ernährt dämmert, aber die Pflegerin tut es doch: Und so patiniert der betriebsunnötige Dialog zwischen zwei Menschen ihre leibliche Begegnung mit einem sanften Schleier von Humanität.
Komplizen
Fausto Romanato hat die in knappen Versen und minimalem Aufwand von sprachlichem Material gearbeiteten Gedichte ins Italienische übertragen. So wird das Buch nicht nur eine Brücke zwischen Alt und Jung, sondern auch ein grenzüberschreitender Resonanzraum für die Frage nach der Würde im Alter. Es ist daher auch passend hier eine Verbindung nach Sizilien zu haben, denn hatte nicht Platon in Syrakus Dion den Jüngeren versucht zu lehren, indem er ihm über das Unglück und Kummer seines Vaters, Dion dem Älteren, berichtete? Dazu aber sollte man Platons »Siebten Brief« (323d-352a) lesen, nachdem man Nina Russo Karchers empfehlenswerten Gedichtband beendet hat.
Die Uhr hat die Zeit vergessen | L’orologio dimentico del tempo
Nina Russo Karcher
deutsch / italienisch
Verlag Steinmeier, Deiningen 2014
126 S.
€ 12,80 (Broschur)
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Diese Rezensionen werden Ihnen von Paul-Henri Campbell präsentiert. Campbell ist 1982 in Boston (USA) geboren und schreibt Lyrik sowie Prosa in englischer und deutscher Sprache. Gedichtbände: »duktus operandi« (2010), »Space Race. Gedichte:Poems« (2012). Er ist ebenfalls Übersetzer und Mitherausgeber der internationalen Ausgabe der Lyrikzeitschrift DAS GEDICHT (»DAS GEDICHT chapbook. German Poetry Now«). Soeben erschienen ist »Am Ende der Zeilen. Gedichte | At the End of Days. Gedicht:Poetry«.
- [1]Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise (1829). Der Eintrag zum 13.04.1787.↩
- [2]Man ist versucht hier die Parallelen zu Herbert Grönemeyers Song »Deine Zeit« (Schiffsverkehr) mitzuhören.↩
- [3]Der Begriff ist freilich angelehnt an Judith Butlers Heteronormativität, der ein ähnliches Phänomen in den Gender Studies beschreibt.↩