»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Karsten Paul
Update LdD
Deutschland, Deutschland unter anderm,
Unter anderm usw.,
Dass es mit der Welt in Frieden
Sanft erblüh’ und lang besteh’.
Destination all inclusive,
Großes Bad im Wohlstandssee;
Deutschland, Deutschland unter anderm,
Unter anderm tut nicht weh.
Deutsche Wissenschaft und Künste,
Deutschen Spieltrieb, deutschen Witz,
All das soll die Welt erhalten
Als bereichernden Besitz.
Weicht, ihr alten Hassgestalten –
Schelmisch grinst der neue Fritz:
Deutscher Gangbang, deutsche Drogen ;-)
Deutsche Leichtigkeit und Witz.
Selbsterkenntnis, Recht und Freiheit
Für das alte Heimatland!
Dafür lasst uns fleißig werkeln,
Aber auch nicht zu verspannt.
Selbsterkenntnis, Recht und Freiheit
Sind der Zukunft Glücksgarant –
Blühe hell in dieser Zukunft,
Blühe, altes Heimatland!
© Karsten Paul, Nürnberg
+ Das Original
Das Vorbild ist hier natürlich das »Lied der Deutschen« von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, dessen dritte Strophe bekanntermaßen den Text der deutschen Nationalhymne bildet und dessen erste Strophe, in der es »Deutschland, Deutschland über alles« heißt, äußerst umstritten ist. Im historischen Kontext dürfte sie zwar anders gemeint gewesen sein, als sie heute gerne einmal ausgelegt wird – nichtsdestotrotz ist sie kritisch zu sehen sowie missbrauchsanfällig und deswegen auch nicht Teil der Nationalhymne. Die zweite Strophe wiederum wurde wegen ihrer Trinkliedhaftigkeit nicht für die Hymne Deutschlands berücksichtigt.
Karsten Paul verpasst nun dem »Lied der Deutschen« rund 175 Jahre später ein Update. Inhaltlich orientiert er sich stark an den Originalstrophen, wendet diese aber stets ins Aktuelle und oft auch Satirische, statt um Frauen, Wein und Gesang geht es etwa in der zweiten Strophe bei Paul nun um Gangbang, Drogen und, besonders doppelbödig, deutschen Witz.
Allerdings ist »Update LdD« auch nicht nur als Satire zu verstehen: Der Wunsch nach friedlicher Einordnung Deutschlands in der Welt, nach Selbsterkenntnis, Recht und Freiheit etwa ist durchaus ernst zu nehmen. Es handelt sich also insgesamt um ein Gedicht, das vielschichtig und äußerst ambivalent ist: Es hebt satirisch auf das Original ab, es inkludiert dazu eine Menge Zeitgeist, und dies gerne ironisch gewendet oder überhöht, bezieht bei alldem aber auch im Ernst Position, und zwar für ein aufgeklärtes, modernes, friedliches und integratives Deutschland, dem der Humor näher ist als das Pathos und zu dem als Vaterland sich Paul dann gerne bekennt.
+ Zum Autor
Karsten Paul wurde 1970 in Kaufbeuren geboren und lebt heute in Nürnberg. Der als Hochschullehrer tätige Psychologe kann zahlreiche Fachpublikationen vorweisen, dazu sind etliche seiner Gedichte in Anthologien und Literaturzeitschriften veröffentlicht, u. a. in »Das Gedicht« und »Macondo«. Er ist regelmäßiger Autor von »Gedichte mit Tradition – neue Blätter am Stammbaum der Poesie«. Mehrfach wurde Paul bei Lyrikwettbewerben ausgezeichnet, zuletzt beim Hochstadter Stier 2014 (Publikumspreis 1. Platz) und beim Jokers Lyrik-Preis 2013 (TextArt-Sonderpreis).
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.