»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Fritz Hasso Hemmer
Das leere Blatt
oder: Ein Ende muss her
Und wieder sitz ich vor dem Blatt,
das weiß ist, nichts zu sagen hat
– im Gegenteil, es grinst mich an,
fragt, ob ich ihm was sagen kann –,
und grüble her und grüble hin.
Kommt mir noch etwas in den Sinn,
das Wert hat, dass ich auf es schreibe,
das wert ist, dass ich auf noch bleibe?
Jetzt ist das Blatt schon halb bekritzelt,
was wiederum den Ehrgeiz kitzelt,
denn kann ich nicht was Ganzes schreiben,
dann ließ ich besser ganz es bleiben.
Das wieder führt mich zu dem Schluss,
dass ich ein Ende finden muss.
Es bliebe sonst ja ein Fragment,
wie man’s von manchem Dichter kennt,
was wiederum ich traurig fände,
und deshalb ist das jetzt
das Ende!
© Fritz Hasso Hemmer, München
+ Das OriginalElisabeth Schwaha
Entstehung eines Sonetts
Zum Sonette drängt’s den hoffnungsfrohen Dichter
aus tiefen, ungereimten, rhythmuslosen Sphären,
denn auf die hohe Kunst des Reimens ist erpicht er,
möcht’ er doch glorioses Applaudieren hören.
Doch wie die Esel stemmen sich die Worte bockig
den Sechserjamben stur, voll Eigensinn entgegen,
die Reime fließen nicht so lyrisch, leicht und flockig,
wie’s in des Dichters hehrer Absicht hat gelegen.
Der Dichter aber, voller wilder Schaffenskraft,
wirft sich mit der Poeten eig’nen Leidenschaft
auf diese grauen Esel, um sie sich zu zähmen.
Derart entsteht nun Zeil’ für Zeile ein Sonett;
und sind auch Reim und Rhythmus manchmal recht ein Gfrett,
will doch der Dichter Lorbeer gern entgegennehmen!
* Gfrett von fretten, mhd. vretten = sich abmühen, abquälen. In Wien sehr gebräuchlicher Ausdruck für Unbilden aller Art.
© Elisabeth Schwaha, Wien
Erstveröffentlicht in: »Der schmunzelnde Poet. Neue komische Gedichte«, hg. v. Jan-Eike Hornauer, Candela 2013
+ Zum Autor
Fritz Hasso Hemmer, geboren 1946 in München, hat bis auf kurze Fehlzeiten immer dort gelebt und ist auch heute noch dortselbst beheimatet. Studium der Rechtswissenschaft in Berlin, Regensburg und München mit Abschluss Referendarexamen. Studium der Geodäsie, abgebrochen nach dem Vordiplom, Jahrzehntelang Mitarbeiter einer großen bayerischen Bank. Heute Ruheständler. Lyriker aus Leidenschaft. Bücher: »Klassik bayerisch«, »Klassik bayerisch, Band 2« (beide BoD).
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung erstveröffentlichter zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.