Vorbild für Karsten Pauls »Badspiegel«-Verse ist unübersehbar das »Avenidas«-Gedicht von Eugen Gomringer, das es durch den Streit an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin über 60 Jahre nach seinem Entstehen 2017 und 2018 in die Nachrichten geschafft hatte. Der Vorwurf der Studierenden-Vertretung: Das Gedicht sei sexistisch, da Alleen, Blumen und Frauen hier von einem Bewunderer betrachtet werden, die Frau werde so zum Objekt. Die Folge: Das preisgekrönte und schon längst kanonisierte Gedicht Gomringers durfte nicht länger als überlebensgroßer Fassadenschmuck eben jener Hochschule dienen, die Gomringer einst für sein Werk ausgezeichnet hatte.
Weiterführende Links zum Thema (vom Ende und vom Beginn der Debatte), die das Avenidas-Gedicht auch im spanischen Original sowie der deutschen Übersetzung beinhalten, finden sich am Ende dieses »Zum Original«-Kastens.
Es bleibt festzuhalten: Karsten Paul hat sich das in jüngster Vergangenheit wohl am weitesten verbreitete Gedicht (es kam gar in den Fernsehhauptnachrichten) als Vorlage erwählt. Mit seinem Nachbild bleibt er der Vorlage dabei formal extrem treu: Er ersetzt beinah das ganze Gedicht hindurch lediglich die Substantive, tauscht »Alleen« durch »Badspiegel« aus, »Blumen« durch »Hackfresse« und »Frauen« durch »Bartschneider«; erst im letzten Vers nimmt er sich eine größere Freiheit und macht aus »ein Bewunderer«: »der Traum einer Blume zu gleichen«.
Der Charakter des Gedichts verändert sich durch Pauls Vorgehen gegenüber Gomringers Original insgesamt freilich radikal: Stille Poesie weicht einer deutlich brachialen und dabei zugleich komischen Stimmung – die gerade durch den unübersehbaren Bezug aufs Original massiv betont wird. Das Rein-Positive wird durch eine klar negative Konnotation ersetzt; wobei diese durch den ins Poetische und stimmungsmäßig in Originalnähe sich wendenden Schlussvers aber auch wieder klar entschärft wird. Anzumerken ist, dass hier gerade die formale Abweichung zur größeren inhaltlichen Nähe, zu einem verstärkten inhaltlichen Bezug zum Original führt – was auch mit dazu beiträgt, dass Pauls komisches Gedicht eine ganz vorzügliche effektvolle und gewitzte Brechung erfährt.
Ein besonderer Clou: Beide Gedichte sind perspektivisch im Privat-Persönlichen angesiedelt, dabei aber durchaus allgemein gehalten und allgemein nachvollziehbar – daran ändert sich auch nichts dadurch, dass Pauls Verse im privaten Raum spielen und Gomringers im öffentlichen.
Kurzum: Karsten Paul verwandelt sich das Original auf ganz eigene Weise an, verändert es radikal – und bleibt ihm zugleich erstaunlich treu.
Abschließend hier noch die angekündigten einführenden Links zur »Avenidas«-Debatte:
Deutsche Welle (20.04.2018): https://www.dw.com/de/neue-heimat-f%C3%BCr-umstrittenes-gomringer-gedicht/a-43464956
Deutschlandfunk Kultur (01.09.2017): http://www.deutschlandfunkkultur.de/kontroverse-um-eugen-gomringers-gedicht-kunstfreiheit.2156.de.html?dram:article_id=394868
Ein sehr nützlicher Beitrag wie ich finde!
Lieben Gruß
Jasmin