»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Alex Dreppec
Kopf im Schredder
(für Sozialpädagogen)
Ungeöffnet stapeln sich in Ecken hier die Briefe,
bei Öffnung springen Rechnungen und Mahnungen ans Licht.
Den Mann zieht es hinab, als ob sein Sarg schon nach ihm riefe,
was ihm noch bleibt, erkennt er mit geschloss’nen Augen nicht.
Holt ihm seine Hoffnung aus dem Ausguss, aus dem Schredder!
Das passt unter die Fußmatte, was der noch von sich hält.
Hat sich in tausend Fallstricken verfangen und verheddert,
doch er hat nur diese Tage, und er hat nur diese Welt.
© Alex Dreppec, Darmstadt
+ Das Original
Rainer Maria Rilke
Der Panther
Im Jardin des Plantes, Paris
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.
Anmerkung: »Der Panther« von Rilke ist mit klarem Abstand das am häufigsten genutzte Vorlagen-Gedicht dieser Reihe. Popularität und Angebot an vor allem inhaltlichen, jedoch auch formalen Anknüpfungspunkten sind hier zwei entscheidende Kriterien: Er gilt vielen meiner Dichterkollegen (sogar dann, wenn sie ihn einmal weniger zart weiterverarbeitet haben sollten!) wie auch mir als eines der besten deutschen Gedichte überhaupt; sie kennen ihn gut, tragen ihn im Geiste immer mit sich und beschäftigen sich gerne mit ihm. Und er lässt sich in vierlei Hinsicht uminterpretieren sowie thematisch (hinsichtlich unterschiedlichster Aspekte von Leben und Gesellschaft), auf die Zeit bezogen sowie auch formal und sprachlich wahlweise gut originalnah nutzen oder auch neu denken.
Aus der großen Präsenz des Rilke-Panthers in »Gedichte mit Tradition« ergab sich der Gedanke, die »Panther«–Nachfolgegedichte quasi als kleine Sammlung innerhalb der Reihe leicht zugänglich zu machen sowie auch den Panther noch weiter zu stärken. Entsprechend habe ich Autorinnen und Autoren dazu aufgerufen, weitere »Panther«–Lyrik zu verfassen – und wiederhole diesen Aufruf hier an dieser Stelle zudem gerne noch einmal. Unter anderem Patricia Falkenburg, so viel sei hier bereits verraten, ist diesem Aufruf bereits gefolgt, sie hat extra für die »Gedichte mit Tradition« ein »Panther«-Poem verfasst, und es ist wahrhaft gelungen: Ihr Text erscheint in der nächsten Folge dieser Reihe. Und damit alle bisherigen und künftigen »Panther«-Gedichte mit nur einem Klick übersichtlich zugänglich sind, wurden die entsprechenden Folgen mit dem Tag »Der Panther« versehen; entweder unten auf den Tag klicken oder hier auf den nachfolgenden Link, dann steht die ganze »Panther«-Familie versammelt da:
https://www.dasgedichtblog.de/tag/der-panther/
+ Zum Autor
Alex Dreppec wurde 1968 in Jugenheim bei Darmstadt geboren, wo er heute als promovierter Psychologe und Berufsschullehrer u. a. in der Ausbildung von Erzieherinnen arbeitet. Als Autor hat er sich vor allem dem komischen Gedicht verschrieben. Er wurde 2004 mit dem Wilhelm-Busch-Preis ausgezeichnet und ist in diversen Standardwerken vertreten, wie »Der große Conrady« (Neuauflage 2008, Artemis & Winkler) und »Hell und schnell« (hg. v. Robert Gernhardt und Claus Cäsar Zehrer, S. Fischer 2004). Er begründete 2006 den Science Slam in Darmstadt, der sich seitdem international ausbreitet. In jüngerer Zeit findet Dreppec überdies mit seinen oft sprachakrobatischen Gedichten zunehmend Eingang in die englischsprachige Literatur (die Übersetzungen sowie Neudichtungen besorgt er selbst), darunter hoch anerkannte Zeitschriften wie »Notre Dame Review«, »Cincinnati Review« (beide USA) und »Orbis« (UK). Er ist regelmäßiger Autor der Zeitschrift »Parody on Impression« (New York). Zuletzt von ihm erschienen: »Tanze mit Raketenschuhen / Dance with Rocket Shoes« (2016), »Glasaugenstern« (2015, beide chiliverlag). www.Dreppec.de
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.