»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Karsten Paul
die Pest an Bord
wir hockten zu Haus im Bürostuhl
und hatten das Virus im Sinn
wir googelten stündlich die Toten
und fragten: »wo führt das noch hin?«
ahoi alte Zeit alte Sicherheit
leb wohl altes Leben leb wohl leb wohl
und draußen die Stadt wie erfroren
vergessen das laute Buhei
nur manchmal huschte verloren
ein einzelner Mundschutz vorbei
ahoi alte Zeit alte Sicherheit
leb wohl alte Freiheit leb wohl leb wohl
wir warteten blass auf Symptome
ein Hüsteln beunruhigte tief –
es waren fast immer Phantome
dank derer man nicht mehr gut schlief
ahoi alte Zeit alte Sicherheit
lebt wohl alter Frieden leb wohl leb wohl
und Paare die lernten sich hassen
im eigenheimligen Knast
sie durften einander nicht lassen
und wurden einander zur Last
ahoi alte Zeit alte Sicherheit
leb wohl alte Liebe leb wohl leb wohl
wir hockten in unsern vier Wänden
und hatten uns selber im Sinn –
und schrieben mit zittrigen Händen:
»ich weiß nicht mehr wer ich noch bin«
ahoi alte Zeit alte Sicherheit
leb wohl alter Hochmut leb wohl leb wohl
© Karsten Paul, Nürnberg
+ Das Original
Wir lagen vor Madagaskar
Wir lagen vor Madagaskar
Und hatten die Pest an Bord.
In den Kübeln da faulte das Wasser
Und mancher ging über Bord.
Ahoi! Kameraden. Ahoi, ahoi.
Leb wohl kleines Mädel, leb wohl, leb wohl.
Wenn das Schifferklavier an Bord ertönt,
Ja da sind die Matrosen so still,
Weil ein jeder nach seiner Heimat sich sehnt,
Die er gerne einmal wiedersehen will.
Ahoi! Kameraden …
Und sein kleines Mädel, das sehnt er sich her,
Das zu Haus so heiß ihn geküßt!
Und dann schaut er hinaus auf das weite Meer,
Wo fern seine Heimat ist.
Ahoi! Kameraden …
Wir lagen schon vierzehn Tage,
Kein Wind in den Segeln uns pfiff.
Der Durst war die größte Plage,
Dann liefen wir auf ein Riff.
Ahoi! Kameraden …
Der Langbein, der war der erste,
Der soff von dem faulen Naß.
Die Pest gab ihm das Letzte,
Man schuf ihm ein Seemannsgrab.
Ahoi! Kameraden …
Und endlich nach 30 Tagen,
Da kam ein Schiff in Sicht,
Jedoch es fuhr vorüber
Und sah uns Tote nicht.
Ahoi! Kameraden …
Kameraden, wann sehn wir uns wieder,
Kameraden, wann kehren wir zurück,
Und setzen zum Trunke uns nieder
Und genießen das ferne Glück.
Ahoi! Kameraden …
[ohne gesicherten Verfasser; Volkslied; wahrsch. im Original von Just Scheu]
+ Zum Autor
Karsten Paul wurde 1970 in Kaufbeuren geboren und lebt heute in Nürnberg. Der als Hochschullehrer tätige Psychologe kann zahlreiche Fachpublikationen vorweisen, dazu sind etliche seiner Gedichte in Anthologien, u. a. in »Wenn Liebe schwant« (hg. v. Jan-Eike Hornauer, muc Verlag 2017), und Literaturzeitschriften veröffentlicht, u. a. in »Das Gedicht« und »Macondo«. Er ist regelmäßiger Autor von »Gedichte mit Tradition – neue Blätter am Stammbaum der Poesie«. Mehrfach wurde Paul bei Lyrikwettbewerben ausgezeichnet, zuletzt beim Lyrikstier 2018 (Jurypreis), beim Preis für politische Lyrik 2017 (1. Platz), beim Hochstadter Stier 2014 (Publikumspreis 1. Platz) und beim Jokers Lyrik-Preis 2013 (TextArt-Sonderpreis).
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.