»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Andreas Schumacher
Der Zauberberg in sieben Strophen
Hans Castorp, ein einfacher Schiffsbaustudent,
besucht, von der Heimatstadt Hamburg getrennt,
im »Berghof« (Davos) einen kranken Verwandten.
Er selbst ist gesund, hat von allen bekannten
Erkrankungen keine, wenngleich Anämie
einst festgestellt wurde als Anomalie.
Hans Castorp verliebt sich in Clawdia Chauchat,
die Glastüren zuwirft, ihr Mann ist nicht da.
Er fuhr auf drei Wochen. »Man fühlt ja hier oben
die Zeit gänzlich anders, man scheint ihr enthoben«,
erklärt ihm sein Vetter — MARIA MANCINI —
HANS CASTORPS ZIGARRE* —, doch Herr Settembrini
beschwört ihn, den »Berghof« sofort zu verlassen.
Die Ärzte (Krokowski und Behrens) verpassen
ihm rasch ein paar Kuren. Er solle auch messen.
Das tut er dann täglich, verstärkt nach dem Essen.
Nachdem er beim Essen wie immer Chauchat sah,
steht freilich auch immer ein bisschen zu viel da.
Hans Castorp verlängert. Es philosophieren
Herr Naphta und S. – bis sie sich duellieren.
Hans Castorp fängt an, dicke Bücher zu lesen,
besucht Moribunde, bewundert das Wesen
von Peeperkorn, Clawdias erkranktem Gemahl,
der irgendwann auftaucht und aushaucht. Die Zahl
der Toten steigt ständig. Joachim, der Vetter,
stirbt auch. Siebtes Jahr und bescheidenes Wetter:
Hans Castorp betreut den Musikapparat,
doch dann bricht der Krieg aus – H. C. wird Soldat.
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© Andreas Schumacher, Walheim
+ Das Original»Der Zauberberg« von Thomas Mann, dieses rund tausend Seiten starke weltliterarische Monument, presst Andreas Schumacher hier kongenial in nur sieben kurze Strophen, inhaltlich, technisch und sprachlich herausragend sowie mit extrem feinem Humor. Stellt sich nur die Frage: Gehört dieses Gedicht auch in diese Reihe, in die »Gedichte mit Tradition«? Hier soll es schließlich um Erstveröffentlichungen gehen, und Schumachers Gedicht ist bereits 2013 erstmals erschienen (in »Der schmunzelnde Poet«, hg. v. Jan-Eike Hornauer, Candela) sowie 2015 abermals publiziert (in Ausgabe 19 der Zeitschrift »Exot«). Zudem besteht ein grundlegender Ansatz der Traditionsgedichte-Onlinesammlung darin, dass Lyrik hier nicht nur Nach-, sondern auch Vorbild ist (wobei der Begriff der Lyrik bewusst weit gefasst wird, u. a. auch religiöse sowie staatstragende Texte lyrischer Natur, also z. B. Gebete und Nationalhymnen, mit einschließt; außerdem – ein weiterer Punkt der Offenheit – muss sich nicht auf deutschsprachige Originale beschränkt werden, wenngleich diese den klaren Schwerpunkt bilden).
Zwei Punkte also gibt es, die klar dagegensprechen, den »Zauberberg in sieben Strophen« hier mit aufzunehmen. Andererseits ist das Gedicht von herausragender Qualität sowie ja durchaus auf ein poetisches Vorbild bezogen, noch dazu eines von großem und dauerhaftem Rang. Kurz und gut: Regeln braucht jede Anthologie, Dogmatismus aber schadet ihr, gezielte Offenheit bringt sie voran. Entsprechend fiel auch die Entscheidung – selbstredend nachdem der Autor angefragt worden war und sein Okay vorlag –, dieses in vorliegender Sammlung gewiss randständige, bezogen auf Könnerschaft, Kunstgenuss und Verarbeiten eines poetischen Vorbilds jedoch außergewöhnlich überzeugende Kunstwerk auch im Rahmen der »Gedichte mit Tradition« zu veröffentlichen.
+ Zum Autor
Andreas Schumacher wurde 1981 in Bietigheim-Bissingen geboren. Er lebt heute als freier Autor in Walheim. Seine Schaffensschwerpunkte sind: komische Gedichte und abgedrehte, schwarzhumorige Kurzgeschichten und Szenen. 2010 gewann er den Lyrikpreis »Hochstadter Stier«. Zuletzt von ihm erschienen: »Die Zeckenbürstenkatzentreppe« (Szenen und Erzählungen; Chaotic Revelry) sowie »Herr der Möhren« (Steinmeier, Reihe »Poesie 21«). www.AndreasSchumacherInfo.de
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung erstveröffentlichter zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.