Jürg Halter (aka Kutti MC) (*1980)
- Lyriker aus Bern
- www.juerghalter.com
- Jürg Halter wurde in Bern (Schweiz) geboren. Er studierte an der Hochschule der Künste Bern. Halter hat sich mit Auftritten in ganz Europa, den U.S.A., Russland und Afrika auch als Performer einen Namen gemacht. Als Kutti MC ist er in der Schweiz auch als Rapper bekannt.
Jürg Halter lebt als Dichter, Autor und Performer in Bern. Bisher sind drei Bücher von Halter erschienen, zuletzt (zusammen mit Shuntaro Tanikawa) das Poesiebuch »Sprechendes Wasser« (Secession Verlag für Literatur, Zürich, 2012).
In loser Folge stellt Franziska Röchter für dasgedichtblog die Teilnehmer des »Internationalen Gipfeltreffens der Poesie« am 23.10.2012 in München vor. Sie sprach mit Gipfelteilnehmer Jürg Halter aka Kutti MC über Künstler als Gesamtkunstwerk, Poetry Slam und Provokation.
»Kunst und Leben sind für mich eins.«
Jürg Halter
dasgedichtblog: Jürg Halter, ursprünglich haben Sie an der Hochschule der Künste in Bern studiert. Hatten Sie ursprünglich einen anderen Berufswunsch als das, was Sie jetzt machen?
Jürg Halter: Ich wusste seit einer Begegnung mit einem Rotbrüstchen, welches unverhofft auf meiner geöffneten Hand landete, kurz nach meinem 6. Geburtstag an einem Fluss namens Aare, dass ich Dichter werde.
dasgedichtblog: Sie haben schon sehr früh damit begonnen, Texte zu publizieren, auch in Herausgeberschaft. Kann man sagen, dass Sie über die Poetry-Slam-Szene in Ihre jetzigen literarischen Betätigungsfelder gekommen sind?
Jürg Halter: Überhaupt nicht. Vorher habe ich schon Texte geschrieben, als Minderjähriger eine Literatur- und Kunstzeitschrift gegründet und Musik gemacht. Die Zeit in der Poetry-Slam-Szene war interessant und aufregend, um Bühnenerfahrung zu sammeln und neue Leute kennenzulernen, umherzureisen. Ich war ja am Beginn dieser Bewegung in Europa aktiv, also Ende der 90er-, Anfang der 00er-Jahre. Literarisch hat mich die Zeit aber wenig geprägt, mich eher darin bestärkt, dass ich meinen eigenen Weg gehen muss. Vor und nach meiner Poetry-Slam-Zeit waren Rilke, Goethe weniger, Benn, Celan, Dylan, Cohen, Eminem, Handke, Bachmann, Pessoa und so weiter. Aber ein Vorbild hatte ich nie.
dasgedichtblog: Sie galten als der jüngste Teilnehmer bei den Solothurner Literaturtagen, dem bedeutendsten und größten Literaturfestival in der Schweiz. Wie alt waren Sie da und was haben Sie performt?
Jürg Halter: Ich war knapp 20 und habe wohl einen durchaus anmaßenden, wütenden Weltschmerz-Monolog platziert.
»Alles, von den Texten, den Performances der Leute bis zu den Reaktionen des Publikums war so voraussehbar, da war so wenig Mut und Visionäres.«
dasgedichtblog: 2001 gewannen Sie bei den Nationalen Poetry-Slam-Meisterschaften in Düsseldorf den 2. Platz im Team zusammen mit Ihren Schweizer Lyriker-Kollegen Tom Combo und Suzanne Zahnd. 2003 gewannen Sie den 14th American National Hip Hop Poetry Slam und kehrten als Sieger im Freestyle-Battle aus Chicago zurück. Warum haben Sie nach solchen Erfolgen 2004 mit dem Poetry Slam aufgehört?
Jürg Halter: Weil mich die Szene nicht mehr interessiert hat. Alles, von den Texten, den Performances der Leute bis zu den Reaktionen des Publikums war so voraussehbar, da war so wenig Mut und Visionäres. So gefällig das Ganze, so klein. Das Slam-Publikum erkennt literarisch Aussergewöhnliches nicht. Es reagiert meist auf die gleichen Effekte. Laut, schnell, pseudopoetisch, vulgär, billig-ironisch und so weiter. Es gab kaum Zwischentöne zu hören. Und formal sind die Texte, die an Slams zu vernehmen sind, vor allem konservativ, mittlerweile hat sich die ganze Sache eher Richtung Stand-Up-Comedy denn in Richtung Literatur weiterentwickelt. Aber als Plattform für gewisse junge Bühnenkünstler hat Slam noch immer einen Reiz. Jeder darf sich ja versuchen. Als Literaturvermittlungsvehikel an Schulen stehe ich Slam kritisch gegenüber.
dasgedichtblog: Sie sind Mitbegründer und Leiter des Literatur- und Kunstkonstrukts »art.-21«. Um was genau handelt es sich dabei?
Jürg Halter: »art.21-zeitdruck« war eine Literatur- und Kunstzeitschrift, die ich zusammen mit zwei Freunden gründete und führte. Wir veranstalteten aber auch Lesungen, Konzerte und Diskussionen, es war mehr eine Bewegung, ein Denkfeld, das wir öffneten in der für uns ereignislosen Berner Provinz. Ich war immer der Meinung, kritisieren sollen vor allem die, die selber etwas in Bewegung setzen. Wir scheuten uns nicht davor, anzuecken.
dasgedichtblog: Bekannt wurden Sie parallel als Rapper Kutti MC. Mittlerweile haben Sie mit so renommierten Künstlern wie Sophie Hunger, Fettes Brot, Endo Anaconda (Stiller Has), Kuno Lauener (Züri West) und Stephan Eicher zusammengearbeitet. Wie kam das?
Jürg Halter: Ich war schon immer Sprachkünstler und nicht nur Dichter. Ich wollte mich von Anfang an innerhalb des Mediums Sprache nicht festlegen, so kam ich über die Hip-Hop-Szene, der ich nur am Rand angehörte, und über die Beat-Poeten zum gesprochen Wort, zum Rap, der immer noch inspiriert. Das Orale an der Sprache hat mich schon immer fasziniert und ich liebe Musik, möchte nicht ohne sie leben. So begann es. Mittlerweile habe ich unter dem Künstlernamen »Kutti MC« vier Alben gemacht und Konzerte in der ganzen Schweiz und im Ausland gespielt. Musikalisch stehe ich zwischen allen Genres. Ein nicht gesuchter, beglückender, doch nicht einfacher Zustand.
dasgedichtblog: Zu wieviel Prozent anteilmäßig sind Sie Kutti MC und zu wieviel Prozent Jürg Halter?
Jürg Halter: Ich bin eine Person, zu jeder Zeit. Ich arbeite immer parallel an verschiedenen Gedichten oder Songtexten. Mein letztes Album als Kutti MC hieß »Freischwimmer«, erschien im Herbst 2011 und mit dem Programm bin ich und Band noch immer unterwegs. Gleichwohl ist letzten Mai mein drittes Buch als Jürg Halter erschienen. »Sprechendes Wasser«, das ich zusammen mit dem japanischen Dichter Shuntaro Tanikawa geschrieben habe. Zurzeit schreibe ich an neuen Gedichten. Nächstes Jahr wird mein neuer Gedichtband erscheinen.
dasgedichtblog: Jürg Halter, wie es ist zur Zusammenarbeit mit Shuntaro Tanikawa und zu dem Kettengedicht »Sprechendes Wasser« (Secession Verlag für Literatur, 2012) gekommen?
Jürg Halter: Wir haben uns in Südafrika in Durban am »Poetry Africa«-Festival 2003 kennengelernt, zu dem wir beide eingeladen wurden. Zwischen mir und Shuntaro gab es von Anfang an eine besondere Verbindung, obwohl wir durch mehrere Generationen, Länder und durch die Sprache getrennt waren. Shuntaro Tanikawa ist wahrscheinlich der bekannteste und bedeutendste Dichter in Japan und ich war damals noch völlig unbekannt. Uns verbindet ein ähnlicher poetischer Blick auf die Welt.
Danach habe ich ihn in Tokyo in seinem Haus besucht. Ein in Bern lebender japanischer Kunsthistoriker, Osamu Okuda, hat uns dann zirka ein Jahr später zum poetischen Dialog über E-Mail angeregt und das war der Beginn des Kettengedichts »Sprechendes Wasser«, welches über vier Jahr hinweg entstanden ist. Es war eine wunderbare Erfahrung und die Lese-Tournee mit unserem Buch »Sprechendes Wasser« durch Deutschland und die Schweiz, die wir letzten Mai gemeinsam unternahmen, werde ich immer in Erinnerung behalten. Es war eine aussergewöhnliche poetische Reise, die ich mit Shuntaro machen durfte.
»Ein neues Gesellschaftsmodell muss und wird bald Wirklichkeit.«
dasgedichtblog: Jürg Halter, im Juli dieses Jahres ließen Sie sich für den Schweizer Tagesanzeiger auf ein Experiment ein: In zwei Stunden sollten Sie unter Dokumentation per Live-Ticker eine Geschichte schreiben. Man kann sie im Netz nachlesen. Unter anderem schreiben Sie: »Unser Traum ist es, dass wir auf einer Insel leben, auf der niemand etwas besitzt, weil alle alles besitzen. Wir hätten keinen Begriff von Besitz.« Auch schreiben Sie vom Wunsch nach der totalen Gegenwart ohne Vergangenheitsempfinden. Im Ernst: Würden Sie das alles wirklich wollen?
Jürg Halter: Jede Zeile, die ich schreibe, hat ihre Wahrheit, die ich selbst nicht unbedingt kennen muss. Literatur hebt Wirklichkeit und Phantasie auf. Dieses Live-Ticker-Experiment war interessant, weil es eben nicht möglich war, lange zu überlegen, so ähnlich wie bei »écriture automatique«-Versuchen. Es gab nur den nächsten Satz, überarbeiten war nicht möglich, ich schrieb entgegen meiner gewohnten Schreibpraxis. Zu der Zeit habe ich mit sehr mit Rousseau beschäftigt und mit seinen Gedanken über den Naturzustand des Menschen, der Zeit vor dem Besitz, das hat mich wohl zu den von Ihnen zitierten Sätzen inspiriert.
Die Wahrheit leuchtet insofern aus diesen Vergangenheiten herüber, dass wir mit unserem Kapitalismus, der nur noch sich selbst gehört und dient, an ein Ende kommen. Ein neues Gesellschaftsmodell muss und wird bald Wirklichkeit. Die Frage ist, zu welchem Preis.
»Zu Hause ist niemals ein permanenter Zustand, man muss immer wieder nach ihm suchen.«
dasgedichtblog: Auf der Spoken-Word-Jazz-CD »la bombe« Ihrer Gruppe »Schule der Unruhe« (2010) gibt es einen »Brief an Kaiserin Elisabeth«. Darin heißt es unter anderem: »Ich wäre gern ein Antiheld.« Was war die Inspiration zu diesem Text und wären Sie auch in Wirklichkeit gern ein Antiheld?
Jürg Halter: Der ganze Satz lautet ja: »Ich wäre gerne eine Antiheld, komme mir hier aber eher wie ein Antikörper« vor. In dem Text geht es eigentlich um die Frage, wo ich, wo wir zuhause sind, also auch darum, dass, wo immer wir auch sind, wir uns letztendlich fremd fühlen. Zu Hause ist niemals ein permanenter Zustand, man muss immer wieder nach ihm suchen. Immer wieder ankommen, bis dass der Tod uns scheidet.
Schule der Unruhe: »Neues Protestlied« auf YouTube
dasgedichtblog: Sie werden auch als »Gesamtkunstwerk« und als »Agent Provocateur« bezeichnet. Wozu möchten Sie die Menschen provozieren?
Jürg Halter: Die willentliche Provokation ist meist die billige und absehbare. – Diese interessiert mich nicht. Ich bin ein Künstler, der wenig Angst hat oder besser gesagt, diese umso mehr zeigt, ich scheue die Konfrontation nicht als Künstler. Kunst und Leben sind für mich eins und wenn man sich hin und wieder zu gewissen Fragen öffentlich explizit äußert, provoziert man halt. Aber Künstler, die nicht polarisieren, gibt es sie? Sind das denn überhaupt Künstler? Und damit meine ich nicht unbedingt die lauten, man kann auch durch Stille, durch Verweigerung, durch Eigenständigkeit, durch Selbstzurücknahme provozieren. Schlimm sind nur die Gefälligkeitskünstler, das sind die, die das Vertrauen in die Kunst verloren, niemals gefunden oder gesucht haben und sich fortwährend selbst belügen und ein Publikum haben, das sich gerne belügen lässt. Auch ich schätze es hin und wieder, inmitten eines solchen Publikums zu sitzen.
dasgedichtblog: Jürg Halter, schlafen Sie wirklich in einem Schwimmbecken und passt das wirklich in Ihre Almhütte hinein?
Jürg Halter: Am liebsten schlafe ich unter Wasser. Ich bin ein Freischwimmer und ich sehe kaum einen Unterschied zwischen den Elementen Wasser und Luft, je näher den Sternen, je leichter fällt es einem, zu träumen.
dasgedichtblog: Lieber Jürg Halter, vielen Dank für dieses Gespräch!
Jürg Halter: »Leicht werden« auf YouTube
Kutti MC: »D’Lösig vo all dine Problem« auf YouTube
Jürg Halter / Tanikawa Shuntaro
Sprechendes Wasser. Gedicht. Deutsch und Japanisch
Secession Verlag für Literatur, Zürich, 2012
62 Seiten
ISBN 978-3-905951-15-8
Euro 28,90 [D]