Im babylonischen Süden der Lyrik – FOLGE 81: LESEEMPFEHLUNG ZUR HERBSTBUCHMESSE – MARIO MARTÍN GIJÓN, DICHTER AUS DER EXTREMADURA

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

Eine spannende Variante im Konzert der poetischen Stimmen bildet der südwestiberische Dichter Mario Martín Gijón aus der Extremadura, der in José F.A. Oliver einen kongenialen Übersetzer gefunden hat, welcher seine experimentelle Verskunst improvisierend in der deutschen Übertragung zu potenzieren weiß. Beide sind enge Wesensverwandte in ihren jeweiligen Poetiken und individuellen Schreibweisen zwischen den Sprachen Spanisch und Deutsch, quasi ein kreatives Ying und Yang. Ihre Zugriffe in der Gedichtnotation multiplizieren die Ausdrucksmöglichkeiten durch minimale Deute: erfrischend, stylisch und gleichwohl kryptisch.

 
Marío Martín Gijón

del alma

a veces
lo que (u)no cree(s)
al ma
raña de nervios
desquiciados
es

 
Marío Martín Gijón

von der seele

manchmal
muss, was (man) nicht (be
se)elend
g.reift h:alt
loses nervengefl:echt
sein

Übertragen von José F.A. Oliver

© Mario Martín Gijón

Treffen in Stuttgart mit Mario Martín Gijón
Treffen in Stuttgart mit Mario Martín Gijón (Foto: Delta-Archiv, Stuttgart)

Als wir die lyrischen Partituren von Mario Martín Gijón einst kennenlernte und uns in Stuttgart persönlich begegneten, bevor sich einige Zeit später José F.A. Oliver ans feine Werk der Übertragung mit viel Leidenschaft und inspirativer Freude machte, fragte ich mich bisweilen:
Wie wird der Urheber diese wohl interpretieren?
Die Bedeutungsvielfalt auffächernd?
Akkumulierend?
Parallel die Knoten knüpfend und gleichsam entwirrend?

Hier weitere Gedichtbeispiele dazu:

 
Marío Martín Gijón

Erblinde schon heu
te
a(d)m(ir)o
con ojo-s-ajados
por las horas ahorradas al horror
que ahora vuel
ve
ya sin sal-ida
hacia el vací(o/[e)go]

 
Marío Martín Gijón

Erblinde schon heu
te, d:ich
be(p)reise
ich mit ver-letzten augen
im zeitort gehorteten horror
der jetzt zurück
(g/fl)eht
ohne auss-ich-t
bl:endgang in (die) le(e/h)re

 

Übertragen von José F.A. Oliver

© Mario Martín Gijón

 

 
Marío Martín Gijón

Weg

otoñábamos en trío
que fluye bajo lluvia
rd(u/í)a
a día [teje]
araña la añoranz(a/uelo)
para errar

 
Weg

(zu) (d/t)ritt ins herbstgewässer
unterm regen (f)ließ(t) g(l)ut

tägl:ich sp:innen
die sehnsucht w:eben
um zu irren

 

Übertragen von José F.A. Oliver

© Mario Martín Gijón

 

 
Wer das nun genauer erfahren möchte, dem empfehle ich dieses interlinguale Buch. Und wer Mario Martín Gijón, dem Dichter aus der Extremadura, und seinem Übersetzer José F.A. Oliver dabei zuhören möchte, der kann dies im Umfeld der iberischen Herbstbuchmesse an folgendem Veranstaltungstermin in Bad Berleburg (18. Oktober 2022).

 

Buchcover-Abbildung (Schiler & Mücke)
Buchcover-Abbildung (Schiler & Mücke)

 

 

 

 

 

 

»cuerpoemas, versb:leibend«
von Mario Martín Gijón
bei Schiler & Mücke

 

 

 

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

 

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Essayist, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018) und sein aktueller Gedichtband »Die Elemente der See« und die umfangreiche Werkauswahl 19912021 »Das Gedächtnis des Wassers«.  2020 erhielt er den Internationalen Poesiepreis »Città del Galateo – Antonio de Ferrariis« in Rom, Italien. Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem »Internationalen KATHAK-Literaturpreis« in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, und als Verlagsteam der Edition Delta mit dem »Deutschen Verlagspreis 2021« des Kulturstaatsministeriums, Berlin, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.


 

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