Im babylonischen Süden der Lyrik – FOLGE 84: »INSPIRATIONEN – DIE PORTUGIESISCHE KÜNSTLERIN PAULA REGO«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

INSPIRATIONEN – DIE PORTUGIESISCHE KÜNSTLERIN PAULA REGO

Zu den großen Künstlerinnen der Gegenwart gehört die portugiesische Malerin Paula Rego (1935–2022). In Cascais bei Lissabon steht ihr monographisches Kulturhaus-Museum »Casa das Histórias Paula Rego« (Haus der Geschichten Paula Rego), das viele ihrer Werke und einige ihres früh verstorbenen Ehemannes Victor Willing (1928–1988), des britischen Malers, rotativ zeigt.

Der katalanisch-spanische Dichter Joan Margarit (1938–2021), der 2019 mit dem renommierten Cervantes-Preis ausgezeichnet wurde, stand Paula Rego nahe und fühlte sich ihr künstlerisch wahlverwandt. Beide verbanden nicht allein iberische Diktaturerfahrungen und familiäre Schicksalsschläge. 2019 erschien auch ihr gemeinsames, inzwischen längst vergriffenes Lyrik-Kunst-Buch »Una mujer mayor« mit 90 Gedichten von Joan Margarit und 31 Werken von Paula Rego.

Im Spätsommer 2019 wurde darüber hinaus in der Berliner Camões-Galerie »Kunstraum« die erste Einzelausstellung »Entre a Imaginação e a Memória« (Zwischen Imagination und Gedächtnis) mit Gemälden und Figuren von Paula Rego in Deutschland gezeigt, eine feine Auswahl von 10 Werken, darunter das Triptychon aus dem Jahr 2005 mit dem Titel »O pescador – The Fisherman« (Der Fischer), die wir mit unserem Sohn und seiner kleinen Tochter Amalia besuchten. Dabei entstanden die folgenden zwei Gedichte.

 
Tobias Burghardt

KREATÜRLICH

Amalia fragt Paula Rego: Wer ist das?

Dort sitzt er mit seiner Wollmütze,
den gestrickten Handschuhen
und hohen Regenstiefeln
schräg im Stuhl:
ein Träumender?
Nur ohne den Bart des Propheten.
Vielleicht
ein Selbstvergessener?
Kein Mucks kann ihn wecken, nichts,
weder Tintenfisch, Grashüpfer, Kater.
Er hört wohl zu.
Begleitet die Seinen.
Ist einfach da.
Da?
Und da doch nicht.

 

»DER FISCHER« VON PAULA REGO

Farbgebinde aus Licht & Vergessen-
heiten im Halbdunkel des Suchens;
die Ausstellung ihrer Bilder erzählt
von der Anwesenheit eines Vaters,
der trotz seiner Abwesenheit – oder
gerade deshalb? – allgegenwärtig ist:
sein umgekehrtes Sein,
es stürzt sich
in den Rhythmus eines Alltagslebens,
als Trost und Dauer, selbst Innigkeit –
wird so die Schulter nimmer verlassen.

 
© Tobias Burghardt


Aktuell findet die erste große Ausstellung “There and Back Again” von Paula Rego in einer deutschen Kulturinitiative statt, die noch bis zum 29. Januar 2023 in der Kestner Gesellschaft in Hannover besuchbar ist.

Es lohnt sich, den Horizont zu erweitern.

 

"Das Gedächtnis des Wassers" von Tobias Burghardt
Buchcover-Abbildung (Edition Delta)

 

 

 

 

»Kreatürlich« und »›Der Fischer‹ von Paula Rego« in:
»Das Gedächtnis des Wassers (Werkauswahl 1991–2021)«
von Tobias Burghardt
bei Edition Delta

 

 

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Essayist, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte den Essayband »Ein Netz aus Blicken. Essays für lateinamerikanische Lyrik« und mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018), sein aktueller Gedichtband »Die Elemente der See« und die umfangreiche Werkauswahl 19912021 »Das Gedächtnis des Wassers«.  2020 erhielt er den Internationalen Poesiepreis »Città del Galateo – Antonio de Ferrariis« in Rom, Italien. Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem »Internationalen KATHAK-Literaturpreis« in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, und als Verlagsteam der Edition Delta mit dem »Deutschen Verlagspreis 2021« des Kulturstaatsministeriums, Berlin, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.


 

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