Im babylonischen Süden der Lyrik – FOLGE 99: »THE COROMANDEL FISHERS – DIE KOROMANDEL-FISCHER (SAROJINI NAIDU)«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

Am Golf von Bengalen liegt die Koromandelküste, genauer gesagt: an der südlichen Ostküste des indischen Subkontinents, an der Tag für Tag die Fischer zu ihrer Arbeit in See stechen. Die englischsprachige bengalische Dichterin und Freiheitsaktivistin Sarojini Naidu, die 1930 am legendären Salzmarsch (Satyagraha) an der Seite von Mahatma Gandhi mitwirkte, schrieb im Jahr 1939 das folgende Gedicht »The Coromandel Fishers« (Die Koromandel-Fischer).

 
Sarojini Naidu

THE COROMANDEL FISHERS

Rise, brothers, rise; the wakening skies pray to the morning light,
The wind lies asleep in the arms of the dawn like a child that has cried all night.
Come, let us gather our nets from the shore and set our catamarans free,
To capture the leaping wealth of the tide, for we are the kings of the sea!

No longer delay, let us hasten away in the track of the sea gull’s call,
The sea is our mother, the cloud is our brother, the waves are our comrades all.
What though we toss at the fall of the sun where the hand of the sea-god drives?
He who holds the storm by the hair, will hide in his breast our lives.

Sweet is the shade of the cocoanut glade, and the scent of the mango grove,
And sweet are the sands at the full o’ the moon with the sound of the voices we love;
But sweeter, O brothers, the kiss of the spray and the dance of the wild foam’s glee;
Row, brothers, row to the edge of the verge, where the low sky mates with the sea.

 
DIE KOROMANDEL-FISCHER

Aufstehen, Brüder, aufstehen; die erwachenden Himmel beten zum Frühlicht,
Der Wind liegt schlafend in den Armen der Morgendämmerung wie ein Kind, das die ganze Nacht geweint hat.
Kommt, lasst uns die Netze vom Ufer holen und unsere Katamarane frei ablegen,
Um die springende Fülle der Flut einzufangen, denn wir sind die Könige der See!

Nicht länger zögern, lasst uns eilends dem fernen Ruf der Möwe folgen,
Die See ist unsre Mutter, das Gewölk unser Bruder, der Wellengang all unsre Gefährten.
Was, wenn wir uns noch bei Sonnenuntergang wälzen, wohin die Hand des Seegottes steuert?
Er, der den Sturm am Schopf hält, wird unser Leben in seiner Brust bergen.

Süß ist der Schatten der Kokosnusslichtung und der Duft des Mangohains,
Und süß sind die Sände bei Vollmond mit dem Klang der Stimmen, die wir lieben;
Doch süßer, meine Brüder, der Kuss des Sprühwassers und der Freudentanz des wilden Schaums;
Rudert, Brüder, rudert zur Kante des Saums, wo sich der tiefe Himmel mit der See paart.

 
Übersetzt von Juana Burghardt & Tobias Burghardt

© Sarojini Naidu

 

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Essayist, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte den Essayband »Ein Netz aus Blicken. Essays für lateinamerikanische Lyrik« und mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018), sein aktueller Gedichtband »Die Elemente der See« und die umfangreiche Werkauswahl 19912021 »Das Gedächtnis des Wassers«.  2020 erhielt er den Internationalen Poesiepreis »Città del Galateo – Antonio de Ferrariis« in Rom, Italien. Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem »Internationalen KATHAK-Literaturpreis« in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, und als Verlagsteam der Edition Delta mit dem »Deutschen Verlagspreis 2021« des Kulturstaatsministeriums, Berlin, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.


 

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