Im babylonischen Süden der Lyrik – FOLGE 100: »ZWISCHEN WÜSTE UND WASSER – EINE WELTOFFENE KULTUR DES WORTES UND FRIEDENS«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

Seit Herbst 2015 schreibe ich monatlich den blog »Im babylonischen Süden der Lyrik«, der damals damit gestartet ist, an das poetische Vermächtnis der italienischen Autorin Giuseppina Amodei, die am 1. Mai vor neun Jahren völlig unerwartet starb, und ihr poetisches Manifest »LUOGOMONDO (WELTORT)« zu erinnern, siehe Folge 1.


Dort schrieb ich u.a.: »Ihr Manifest ›LUOGOMONDO (WELTORT)‹ kreist um aktuelle Fragen, wie die Poesie und das poetische und künstlerische Leben in heutigen Zeiten der weltweiten Vernetzung aller fünf Kontinente zu gedanklicher Neubestimmung sowie ethisch-ästhetischer Neubesinnung führen kann. Die kreativen Grundlagen – Synergie, Ganzheit, künstlerische Freundschaft, Aktion, Kompetenz und ernsthaftes Forschen – verschmelzen dabei zu einem idealistischen Projekt, das ebenso politisch, philosophisch, sozialanthropologisch, literarisch und poetisch wirkt.«

In der aktuellen Folge 100 möchte ich darauf rückblickend innehalten.

Möge dem weiterhin so sein – trotz der prekären Weltlage, die eher düster daherkommt.

Und über den Geist der literarischen Schätze und Manuskripte von Timbuktu, die ebenso manifest für Weltoffenheit, gegen Krieg, Verwüstung und Gewalt, sowie für eine Kultur des Wortes und Friedens stehen, werde ich demnächst schreiben.


Ana Paula Tavares

A PEQUENA HISTÓRIA DO GRANDE AHMAD BABA
CRONISTA DE TOMBOUCTU, A CIDADE

Carregado com os instrumentos da escrita
Ahmad Baba sentou-se a pensar
E viu no meio do deserto
No local dos camelos e do ouro
Nascer a primeira muralha
Escreveu o sol desenhou círculos
À volta de si mesmo
e na pele da estrada.
Olhou os viajantes e bebeu
deles a água da distância chamou
rio às correntes nas margens
e deus à força de crescer as vagens
os seres seiva das árvores e mistério.
Inventou a escrita para nomear a cidade.

 

Ana Paula Tavares

DIE KLEINE GESCHICHTE DES GROSSEN AHMAD BĀBĀ
CHRONIST VON TIMBUKTU, DER STADT

Beladen mit Schreibgeräten
Setzte sich Ahmad Bābā zum Nachdenken
Und sah in der Mitte der Wüste
Am Ort der Kamele und des Goldes
Die Geburt der ersten Mauer
Er schrieb die Sonne zeichnete Kreise
Um sich selbst
und auf die Haut der Straße.
Er sah die Reisenden an und trank
ihr Wasser der Entfernung nannte
Fluss die Ströme an den Ufern
und Gott die Kraft des Schotenwachstums
die Saftwesen der Bäume und das Geheimnis.
Er erfand die Schrift, um die Stadt zu benennen.


Übersetzt von Juana Burghardt & Tobias Burghardt


© Ana Paula Tavares


Heute ist zudem der Welttag der portugiesischen Sprache (Dia Mundial da Língua Portuguesa), der vor fünf Jahren von der UNESCO für den 5. Mai erklärt wurde, und eine der am häufigsten gesprochenen Sprachen des Globalen Südens und ihre über mehrere Kontinente weitverzweigte lusophone Poesie feiert, zu der die angolanische Dichterin Ana Paula Tavares gehört, siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik«, Folge 65 und Folge 88.

 

"Wie feine Adern in der Erde & Wildes Wasser" von Ana Paula Tavares
Buchcover-Abbildung (Edition Delta)

 

 

»Como Veias Finas na Terra & Água Selvagem (Poemas inéditos) –
Wie feine Adern in der Erde & Wildes Wasser (Unveröffentlichte Gedichte)«
von Ana Paula Tavares
bei Edition Delta

 

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Essayist, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte den Essayband »Ein Netz aus Blicken. Essays für lateinamerikanische Lyrik« und mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018), sein aktueller Gedichtband »Die Elemente der See« und die umfangreiche Werkauswahl 19912021 »Das Gedächtnis des Wassers«.  2020 erhielt er den Internationalen Poesiepreis »Città del Galateo – Antonio de Ferrariis« in Rom, Italien. Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem »Internationalen KATHAK-Literaturpreis« in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, und als Verlagsteam der Edition Delta mit dem »Deutschen Verlagspreis 2021« des Kulturstaatsministeriums, Berlin, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.


 

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