Im babylonischen Süden der Lyrik – FOLGE 88: »ANA PAULA TAVARES IN LEIPZIG – ›TUAS MÃOS O SILÊNCIO DO TEMPO – DEINE HÄNDE DAS SCHWEIGEN DER ZEIT‹«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

ANA PAULA TAVARES IN LEIPZIG – »TUAS MÃOS O SILÊNCIO DO TEMPO – DEINE HÄNDE DAS SCHWEIGEN DER ZEIT«

Stand bei der Leipziger Buchmesse
Die angolanische Dichterin Ana Paula Tavares bei der Leipziger Buchmesse (Fotos: Edition Delta, Stuttgart)

Die angolanische Dichterin und Historikerin Ana Paula Tavares, die seit langer Zeit in Portugal lebt, vereint Ästhetik und Ethik; ihre Werke zeichnen sich durch feinsinnige, sinnliche Schönheit und Tiefe aus. Wir haben ihre intensive Lyrik daher sehr gerne dem Deutschen anvertraut. Von Ana Paula Tavares erschienen ihre früheren Gedichte aus den Jahren 1985–2007 in der zweisprachigen Werkauswahl »Árvore da Febre – Fieberbaum« und letzthin der zweisprachige Doppelband »Como Veias Finas na Terra & Água Selvagem (Poemas inéditos) – Wie feine Adern in der Erde & Wildes Wasser (Unveröffentlichte Gedichte)« mit neueren Gedichte ab 2010 bis heute; siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 65.

Lesung Ana Paula Tavares bei der Leipziger Buchmesse
Lesung Ana Paula Tavares

»Portugal« in seiner Vielfalt an portugiesischsprachigen Literaturen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Europa als das Gastland der Leipziger Buchmesse zu präsentieren, versandete noch in zwei coronabedingt vergeblichen Anläufen 2021 und 2022. In diesem postpandemischen Frühjahr 2023 wurde ein ambitionierter dritter Versuch, »(Es gibt keine) verbotenen Worte« genannt, mit einem schönen Stand von »Portugal« in der internationalen Leipziger Messehalle 4 und einem umfangreichen literarischen Programm mit 15 Veranstaltungen gestartet.

Michael Kegler, Literaturübersetzer aus dem Portugiesischen bei der Leipziger Buchmesse
Michael Kegler, Literaturübersetzer aus dem Portugiesischen

Ana Paula Tavares nahm insgesamt bei vier Programmpunkten (Vorstellung der Autorin, Lyriklesung, Gespräch und Debatte) teil. Wir lasen gemeinsam mit ihr unter dem Motto »Tuas mãos o silêncio do tempo – Deine Hände das Schweigen der Zeit« aus ihren zweisprachigen Werken. Der unermüdliche Literaturübersetzer aus dem Portugiesischen Michael Kegler hielt u.a. eine Lyriklesung mit dem Titel »Das Geräusch der Gedichte beim Öffnen« und erinnerte dabei an die Dichterin Natália Correia und den Lyriker Eugénio de Andrade, zwei Klassiker der modernen portugiesischen Poesie, die in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wären, sowie an die im Spätsommer 2022 plötzlich verstorbene Poetin Ana Luísa Amaral, von der er noch im Frühjahr 2021 den Gedichtband »Was ist ein Name« in der Edition Lyrik Kabinett bei Hanser veröffentlicht hatte. Zur portugiesischen Dichter-Delegation gehörte auch der 1968 in Angola geborene und heute in Coimbra lebende portugiesische Dichter und Anthropologe Luis Quintais; siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 30.

Ana Paula Tavares und ihre Lyrikübersetzer
Ana Paula Tavares und ihre Lyrikübersetzer

Zu unserer freudigen Überraschung erhielten wir wenige Tage vor der Leipziger Buchmesse ein neuestes unveröffentlichtes Gedicht von Ana Paula Tavares, um es gleichsam vorbereitend für die zweisprachige Lyriklesung ins Deutsche zu übersetzen.

 

Ana Paula Tavares

e dançar
dançar meu amor
com todas as voltas
cair
pela estrada já caminho atalho
morrer em cada árvore
perder o nome
e dançar meu amor
num torvelinho
de barro e mel
meu amor
dançar
com os espíritos inquietos
os de casa e os de fora
abrir a pele
dançar meu amor
como os meus mortos e os outros
voltam pela noite
com as estranhas línguas
e nada de fio meada sol
dançar meu amor
perder o nome
perder-me
pelas raízes

 

Ana Paula Tavares

und tanzen
meine Liebe, tanzen
mit all den Wendungen
fallen
auf die Straße, die schon eine Abkürzung ist
an jedem Baum sterben
den Namen verlieren
und, meine Liebe, tanzen
in einem Wirbelwind
aus Ton und Honig
meine Liebe
tanzen
mit den rastlosen Geistern
die von Zuhause und die von anderswo
die Haut öffnen
meine Liebe, tanzen
wie meine Toten und die anderen
in der Nacht zurückkommen
mit den fremden Sprachen
und keinem Sonnenfaden
meine Liebe, tanzen
den Namen verlieren
mich verlieren
bei den Wurzeln


Übertragen von Juana Burghardt und Tobias Burghardt

© Ana Paula Tavares

 

"Wie feine Adern in der Erde & Wildes Wasser" von Ana Paula Tavares
Buchcover-Abbildung (Edition Delta)

 

»Como Veias Finas na Terra & Água Selvagem (Poemas inéditos) – Wie feine Adern in der Erde & Wildes Wasser (Unveröffentlichte Gedichte)«
von Ana Paula Tavares
bei Edition Delta

 

 

"Fieberbaum" von Ana Paula Tavares
Buchcover-Abbildung (Edition Delta)

 

 

»Árvore da Febre – Fieberbaum«
von Ana Paula Tavares
bei Edition Delta

 

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Essayist, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte den Essayband »Ein Netz aus Blicken. Essays für lateinamerikanische Lyrik« und mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018), sein aktueller Gedichtband »Die Elemente der See« und die umfangreiche Werkauswahl 19912021 »Das Gedächtnis des Wassers«.  2020 erhielt er den Internationalen Poesiepreis »Città del Galateo – Antonio de Ferrariis« in Rom, Italien. Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem »Internationalen KATHAK-Literaturpreis« in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, und als Verlagsteam der Edition Delta mit dem »Deutschen Verlagspreis 2021« des Kulturstaatsministeriums, Berlin, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.


 

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