Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.
Als ich gerade dabei war, Hägenmark zuzubereiten, so nennt sich auf Schwäbisch, was Buttenmark in der Schweiz genannt wird, kam mir plötzlich in den Sinn, noch vor dem Frühjahr auf die neuen Lyrikbände von Luís Quintais und Hemant Divate im aktuellen blog aufmerksam zu machen und meinen Schreibtisch wiederum leer. Hagebuttenmark ist verdammt lecker, wenn es nicht so konfitürend, marmeladig oder gar sirupen daherkommt, sondern eher ein bissel fester ist. Nun, mit der Haggada hat das alles schier nichts zu tun.
Luís Quintais lernten wir vor fast einem Dutzend Jahren auf einem Internationalen Poesietreffen in Porto Santo kennen und waren von seinen melancholisch getragenen Gedichten sehr angetan; Hemant Divate vor einem Jahrfünft beim Internationalen Poesiefestival Al-Mutanabbi in Zürich, ebenfalls ein ausgezeichneter Dichter mit seinerseits kraftvollen Visionen. Während Luís Quintais eher ein meditatives, abstraktes, dennoch präzises Schreiben bevorzugt, klingen bei Hemant Divate dynamisch temperierte Tonlagen, mitunter gesellschaftspolitisch oder philosophisch flankiert, an. Mir gefallen beide Spätsechziger, jeder in seinem authentischen Stil und mit einer jeweils intensiven Stimmlage.
Es gibt zwei Hägenmark-Verfahren, ein kaltes und ein heißes. Das ist bemerkenswert! Das eine hält den Vitaminreichtum aufrecht, das andere schmälert ihn. Ich bevorzuge deshalb eine Mischung: das kühle Verfahren für das Fruchtmark und das erwärmende für die Kerne bzw. Nüsschen mit den Pektinen unter Zugabe von Rotwein bei ihrer Erhitzung, wobei nur der Geliersaft daraus zur schlussendlichen Abrundung gebraucht wird. Soweit zu meinem Hägenmarkrezept.
Luís Quintais wurde 1968 in Angola geboren, wuchs mit der Unabhängigkeit Angolas ab 1975 in Lissabon auf, wo er zur Schule ging und studierte. Seit 2005 ist er Professor für Anthropologie an der Universität Coimbra. Inzwischen hat er elf Lyrikbände veröffentlicht, seine Gedichte wurden in mehrere Sprachen übersetzt, er erhielt diverse Literaturpreise in Portugal und schreibt zudem ausgezeichnete Essays.
Hemant Divate, geboren 1967 im westindischen Maharashtra, schreibt auf Marathi, wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt sowie mit Literaturpreisen in Indien und Nordamerika ausgezeichnet und übersetzt auch selbst Lyrik (u.a. Les Murray). Er gab fünfzehn Jahre lang die Poesiezeitschriften »Abhidha« sowie »Abhidhanantar« heraus und verlegt mit seiner Frau mittlerweile die Imprint-Reihe »Poetrywala« in Mumbai.
Das Wort »Hagebutte« stammt noch aus dem Hochmittelalter, wobei der Dornbusch damals im Mittelhochdeutschen »hagen« hieß und etwas natürlich Rundliches »butte«. So war schon im Althochdeutschen die Bezeichnung »haganbutta« geläufig. Im Spätmittelalter gab es daneben im Frühneuhochdeutschen noch die männliche Benennung »hagenbutz«. Im Fränkischen wiederum heißt‘s auch heute Hiefen-, Hiffen-, Hiften- oder Hippenmark. Die Lautverscheibung zwischen -f- und -p- ist bezeichnend, ebenso die Flexibilität beim Vokal -i-, mal gedehnt, mal knapp. Eben mit jenem Hiffenmark werden übrigens jetzt die fränkischen Faschingskrapfen gefüllt.
Beide Bücher liegen ohne Originalversionen komplett in deutscher Fassung vor. Mário Gomes übersetzte – mit einem Vorwort von Nuno Carrilho – die Gedichte von Luís Quintais aus dem Portugiesischen; Andrea Steinauer die Gedichte von Hemant Divate, die zuvor aus dem Marathi von Dilip Chitre, Sarabjeet Garcha und Mustansir Davi ins Englische übersetzt worden sind, aus den englischen Fassungen mit einem interessanten Marathi-Glossar, begleitet von einer Einleitung des in Berlin lebenden indisch-deutschen Lyrikers Rajvinder Singh.
Lieber Luís und lieber Hemant, mein sehr herzliches »Enhorabuena« zu euren wunderbaren und empfehlenswerten Buchveröffentlichungen hier, die hoffentlich viele Lesende finden werden, die sich mit euren Gedichten nun anfreunden können; das mit dem Hägenmark ist mitteleuropäische Folklore, ein klein wenig mühsam bei der Zubereitung, durchaus exotisch, jedenfalls farbenfroh gut.
In seiner Hinführung schreibt Rajvinder Singh zutreffend: »Übersetzungen sind ›Augen und Ohren‹ für die Dichter, die gesehen und gehört werden möchten.«
»GLAS« von Luís Quintais bei Aphaia Verlag kaufen
»EINGENISTET IN MEINEN GEDANKEN« bei Draupadi Verlag kaufen
Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Im Februar erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018). Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Portugal, Serbien, Schweden und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem Internationalen KATHAK-Literaturpreis in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.