Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.
Überall
kann unser Fuß
im Weltgarten tanzen
Giuseppina Amodei
Niemand ahnte, wie sehr das Lebenslicht der italienischen Poetessa Giuseppina Amodei immer glimmender wurde, um noch klare Zeichen zu setzen. Es stand schon länger fest, dass einer europäischen Kunst- und Kulturmetropole wie Florenz ein Internationales Poesiefestival gebührt. Noch im Herbst 2014 – ihrem letzten Lebensjahr – hatte Giuseppina Amodei mit dem »microfestival tra versi e (di)versi – LA POESIA É UN GIARDINO INFINITO« in Zusammenarbeit mit der »Associazione per Boboli« im Palazzo Pitti – Rondò di Bacco im Herzen der Altstadt von Florenz den Grundstein dafür gelegt.
Am Tag der Arbeit im Jahr 2015 ist Giuseppina Amodei, die von ihren nächsten Freunden und Verwandten liebevoll »Pina« beziehungsweise »Pinuccia« genannt wurde, völlig unerwartet in den Morgenstunden des sonnigen Maifeiertags in Pian di Scò, Provinz Arezzo, verstorben. Sie hinterlässt ein poetisches Vermächtnis, das weit über die Grenzen der florentinischen Toskana, Italiens und Europas hinausgeht.
Giuseppina Amodei wurde am 18. Dezember 1947 im süditalienischen Ferruzzano, Reggio Calabria, geboren und wuchs im toskanischen Incisa Valdarno bei Florenz auf. Sie studierte Pädagogik an der Fakultät in Florenz und unterrichte danach als Lehrerin. Für ihr poetisches Werk wurde sie mit mehreren Preisen ausgezeichnet, u. a. 1996 mit dem kalabrischen Poesiepreis Nosside, 1997 mit dem ersten Premio Firenze-Europa, 2001 mit dem Poesiepreis STED, Modena, sowie 2006 mit dem Internationalen Poesiepreis Roberto Farina.
Meine Frau Juana und ich lernten sie 2007 im venezolanischen Valencia beim dortigen Internationalen Poesiefestival kennen. In den folgenden Jahren unserer Freundschaft begegneten wir uns in Florenz, Zürich und Berlin. Einige ihrer langen Gedichte übersetzten wir ins Deutsche. Gemeinsam begeisterten wir uns mit ihr für transnationale Poesieprojekte. Familiäre Verbundenheit und Warmherzigkeit schätzte sie sehr. Auch Dichter und Künstler waren bei ihr Zuhause willkommen und wurden südländisch bewirtet.
Ihr Manifest »LUOGOMONDO (WELTORT)« kreist um aktuelle Fragen, wie die Poesie und das poetische und künstlerische Leben in heutigen Zeiten der weltweiten Vernetzung aller fünf Kontinente zu gedanklicher Neubestimmung sowie ethisch-ästhetischer Neubesinnung führen kann. Die kreativen Grundlagen – Synergie, Ganzheit, künstlerische Freundschaft, Aktion, Kompetenz und ernsthaftes Forschen – verschmelzen dabei zu einem idealistischen Projekt, das ebenso politisch, philosophisch, sozialanthropologisch, literarisch und poetisch wirkt. Weitere Details dazu, darunter Lesungen in Florenz, Rom, Turin und so weiter, sind auf der Luogomondo-FB-Seite zu finden.
Giuseppina Amodei
LUOGOMONDO – WELTORT
Zukunftsidee in Gedichtform
Wenn die Erde von allen ist
sei sie von allen
JETZT
nur jetzt
da jede Weltgegend im Blickfeld
jedes Menschen ist
JETZT
nur jetzt
da die Entfernung der Weltangelegenheiten
so kurz ist
und der Lauf der Ereignisse
die Zeit so sehr beschleunigt
JETZT
nur jetzt
da kein Winkel der Erde noch Geheimnisse hat
UND DESHALB
ist es nicht mehr möglich
gleichgültig zu bleiben
JETZT
und noch einmal
DER POESIESCHAFFENDE
ist aufgerufen seinen Teil zu leisten
DENN
er besitzt den RiesenÜberblick
fähig von oben in jede Scholle zu schauen
er besitzt die rasierklingenscharfe Sprache
um jeden Stacheldraht zu zerschneiden
er besitzt enorme Arme
fähig jeden Menschen
der zur Welt gehört und nicht nur zum Dorf
zu umarmen
er besitzt enorme Kelch-Hände
die jeden Samen und jede Brut kneten
er besitzt fähige Finger
um bunte Fäden aus Haut und Gedanken
ineinander zu verflechten
die auf langen realen und telematischen Wegen verlaufen
er besitzt unendlich viele Herzen
die im Gleichklang
gegen das Herz aller klopfen
er besitzt den Atem
(göttlich?)
der Gerechtigkeit nährt und das Feuer
der Gleichgültigkeit löscht
DIE JUGEND
die den Fortschritt nicht fürchtet
hat weder Angst bis zur Gefahr
der imaginären globalen Agora vorzudringen
noch auf realen Plätzen zu schreien oder das Bewusstsein
der sogenannten Mächtigen aufzurütteln
(das kann und soll)
die künftige Aufgabe sein für den
WIEDERAUFBAU
DENN
Der Erde
mangelt es weder
an Ort noch an
Traumidealisierung einer unmöglichen Gesellschaft
oder Illusionen
ABER
verwandle
DENKEN UND WIRKLICHKEIT
bewusst
JETZT
und nur jetzt
ist es möglich sich zu engagieren
um eine Welt zu erschaffen
in der
der Frieden Herrscher wird
die Erde verwandelt sich in
WELTORT
EIN RAUM FÜR ALLE
wo der Einzelne und die Gesellschaft
in der gemeinsamen Umarmung
die Wälle niederreißen
JETZT
und nur jetzt
ist die Zeit jenes Richtige
DIE ZEIT
des Menschen der das Blendwerk seiner selbst ablegt
wird nach einer Zeit
Vater Sohn Mutter Bruder Freund
Freier Surfer
auf dem Gebiet der Richtigen Dimension
Ins Deutsche übersetzt von Juana und Tobias Burghardt
2013 erreichte dieses Manifest »LUOGOMONDO (WELTORT)« beim »XIII Internationalen Festival Al-Mutanabbi« in Zürich den mehrsprachigen Zuspruch von berühmten Dichtern wie beispielsweise Adonis und Eugen Gomringer – und ist inzwischen neben dem italienischen Urtext auch ins Arabische, Englische, Deutsche, Türkische und Spanische übersetzt. Davor vollendete Giuseppina Amodei ihr umfangreiches Schaffen mit der Veröffentlichung ihres Lyrikbandes »LuogoMondo dentro il Mito«, Edilazio Letteraria, Rom 2013, und ihres dramatischen Werks »Il Sipario Smarrito. Teatro 2000-2010«, Edizioni Lepisma, Rom 2011, mit einem glanzvollen Vorwort des kalabrischen Dichters Dante Maffia. Neben Gedichten schrieb sie auch viele Theaterstücke, Romane und essayistische Schriften.
Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, zuletzt »Septembererde & August-Alphabet« (2010). Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Portugal, Serbien, Schweden und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkausgabe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.