»InZwischen« von Wolfram Malte Fues

rezensiert von Paul-Henri Campbell

»InZwischen« von Wolfram Malte FuesWolfram Malte Fues »InZwischen«

Thitz. Die Gedichte sind illustriert. Die Illustrationen sind bedichtet. Gedichte sind nicht allein auf weißer Flur. Gezeichnet wurden diese Anhäufungen aus Signifikanten, zugezeichnet, beigezeichnet. Wolfram Malte Fues ist der Dichter zur linken Seite jedes Doppelbogens. Thitz ist daneben, Zeichnungen er, seine. Wir haben eine Präferenz für eine spezifische Leserichtung. Links nach rechts. Links Gedichte, rechts Zeichnung; links Fues, rechts Thitz. Leserichtungen sind kulturspezifisch |negnuthcireseL. Der Gedichtband ist ein Zeichenwerk, das nicht nur aus Gedichten besteht. »InZwischen« will sagen: Zeichnungen und Zeichen sind Intarsien, eingelassen in die Fläche möglicher Bedeutung.

Kollaborationen glücken selten. Aber was sich aus der Zusammenarbeit zwischen dem deutsch-schweizerischen Dichter Wolfram Malte Fues (geb. 1944) und dem 1962 in Frankfurt am Main geborenen Künstler Thitz ergeben hat, ist ein Buch, bei dem man sowohl die Zeichnungen bestaunen möchte und über diese die Gedichte vergessen könnte, als auch die Gedichte lesen kann, ohne viel der Zeichnungen zu achten. Oder man betrachtet sie gemeinsam. Ihre Spannung. Ihre Schnittmenge. Ihre Differenz. Ihr gemeinsames Anliegen, welches sich jeweils eines andren Modus der Expressivität bedient.

In dieser Besprechung möchte ich mich naturgemäß auf die Gedichte von Wolfram Malte Fues konzentrieren. Die Zeichnungen des Künstlers Thitz, die diesen Gedichtband vervollständigen, lasse ich an dieser Stelle beiseite. Dies ist eine Lesart, die ich allein aus pragmatischen Gründen wähle. Im Grunde verdienen die Illustrationen eine eigene Besprechung, wie es insgesamt notwendig wäre, die in den letzten Jahren wieder stärker auftretende Kombination von Gedicht und Illustration auf ihre gesamtkünstlerische Produktivität hin zu befragen.

Fues. Wolfram Malte Fues ist ein Literaturwissenschaftler – ein sogenannter Germanist. Er lebt seit über dreißig Jahren in der Schweiz. Diese beiden Umstände müssen uns nicht gegen ihn misstrauisch machen. Neben vier wissenschaftlichen Monographien stehen fünf Lyrikbände – das beruhigt. Sein wissenschaftliches Interesse für »Intertext« deutet auf eine gewisse Perversion hin. Sein wissenschaftliches Interesse für Meister Eckhart – auch.

Sein neuer Gedichtband trägt den Titel »InZwischen« (Allitera Verlag, 2014). »InZwischen« ist im Übrigen der einzige Titel, dem wir in diesem Band begegnen werden. Denn sein langer Aufenthalt in der grunddemokratischen Eidgenossenschaft hat den Autor gegen diskursive Hierarchien misstrauisch gemacht. Fues verwendet keine Titel, nirgends. Fues will uns direkt in den Rausch der Poesie verstricken, unmittelbar haben wir es mit einer Rede zu tun, die man unschwer als poetische Rede erkennt.

Ich schlage vor, dass wir uns diesem faszinierenden Gedichtband aus vier Perspektiven näheren: 1) bestimmen wir den Status der lyrischen Stimme; 2) infolgedessen werden wir erkennen, dass wir es bei dem Gedicht mit einer Art Waage der Vernunft zu tun haben; 3) der es sogar gelingen könnte, die mindestens seit Hamlet aus den Fugen geratenen Zeit wieder einzurenken, aber anders als wir vermuten; und schließlich 4) möchte ich einige Beobachtungen zum titellosen Gedicht festhalten, die vom dichterischen Werk von Fues inspiriert worden sind.

Unbestimmte Stimme

Es wird notwendig sein, jene zeichenhaft organisierten Gebilde mit dem zu identifizieren, das wir als Stimme bezeichnen. Dies ist keineswegs selbstverständlich, denn zum poetischen Konzept von Wolfram Malte Fues gehört eine bis auf wenige Ausnahmen vorgenommene Tilgung dessen, was gerne als »lyrisches Ich« bezeichnet wird. Fues verdeckt das (explizite) Subjekt des poetischen Diskurses. Daraus ergibt sich eine Situation, die etwa so ist, wie wenn ein Maler darauf verzichtet Figuren und Gegenstände in seine malerischen Ausführungen einzubeziehen: »Das Ohr hat bekannt. / Sein Ressort geht sich scannen. / Es will ganz Chor / werden für das bohrende Gefühl / des Magsein im Maybe / hinter dem Hörrohr.«

Das hier zitierte Gedicht ist symptomatisch für die Strategie, die sich im Fues-Band häufig findet. Die Perspektive der Rede bleibt hier scheinbar athematisch. Wir können nicht sagen, woher diese Anordnung von Wörtern ihre Sagbarkeit gewinnt. Davon abgesehen, dass sie uns gedruckt vorgesetzt wird, in einem Buch, das von einem Urheber reklamiert wird, enthält diese einzelne weiße Fläche (es ist die Seite 62) nichts, das den Fluchtpunkt dieser sechs Zeilen andeutet. Welches Verhältnis haben sie zur Welt? Welches Verhältnis haben sie zu, sagen wir, einer singulären Erfahrung von Welt und subjektiver Deutung einer Welt? Haben sie überhaupt etwas mit der Welt zu tun?

Fues erhöht in diesem Sechs-Zeiler gleich noch im ersten Vers die Verwirrung: »Das Ohr hat bekannt«. Wir haben es offensichtlich mit anthropomorphischer Rede zu tun – das Organ Ohr, welches eigentlich wahrnimmt und aufnimmt, aber nicht expressiv und artikulierend sich äußert, ist das Subjekt eines kommunikativen Akts: Es bekennt bzw. »hat bekannt«. Aber wie wird das Ohr zum Initiator einer Kommunikation, wo es doch zum Hören da ist? Ist das Ohr (infolge z. B. von Scham oder Schreck) etwa rot geworden? Hat es sich verfärbt und somit dessen Träger, also dem Kopf und der Person des Hauptes, nicht nur zu etwas bekannt, sondern verraten?

Wieder stellt Fues also die Frage nach dem Status der Stimme. Dieser Frage muss keineswegs eine eindeutigen Antwort zugeführt werden. Vielmehr markiert die Fraglichkeit der Perspektivität der Rede eine interpretative Spannweite des Gedichts und erhöht somit den potenziellen Genuss des Lesers, der sich mit einem poetischen Diskurs konfrontiert sieht, da ihm viel Spielraum gegeben ist, sich mit dem Text zu vergnügen.

Aber: Selbst ohne grammatische Marker geschieht eine Fokussierung in diesem Gedicht. Auch ohne »lyrisches Ich« wird die Rede kanalisiert und modelliert. Weiter aber finden wir in diesem Sechs-Zeiler eine akustische Fokussierung, die wieder auf dem Phonem »Ohr« ruht: »Ohr« → »Ressort« → »Chor« → »bohrende« → »Hörrohr«.

Freilich trägt der Lautcluster »Ohr« hier jeweils eine andere Bedeutung, wenn er auch als Lautkette in den verschiedenen Realisierungen (relativ) identisch bleibt. Die Wirkung jedoch ist eine strategische Pointierung und Fokussierung auf ebendieses »Ohr«.

»Ohr« wird in seiner Semantik augmentiert: von einem bloßen Organ wird es zu einem Areal (»Ressort«) und einer Ansammlung von Stimmen (»Chor«), aber auch zu einem »bohrenden Gefühl« und einem antiquierten medizinischen Instrument (»Hörrohr«). Das so erweiterte Potenzial des semantischen Spektrums sowie der Synthese dieser Semantiken eröffnen einen noch größeren interpretatorischen Resonanzraum und somit einen noch größeren Genuss im Hinblick auf den Leser, der sich an diesen vielen Möglichkeiten erfreuen kann. Ich behaupte, diese Art der Fokussierung hat mit dem lyrischen Ich zu tun.

Die Frage nach dem Subjekt des poetischen Diskurses ist keineswegs einfachhin eine grammatische oder nur eine »subjekttheoretische« Frage. Vielmehr ist sie eine Frage nach dem Kern, der Dichte, dem Zentrum, der Richtung, dem Fokus dessen, was sich als Gedicht ausspricht. Diese Frage ist deshalb wichtig, nicht weil sie theoretisch geklärt sein will, sondern weil das Nachdenken über sie ein Teil der ästhetischen Erfahrung ist. Der Status der Stimme konstituiert sich sonach als realisierte Lesart des Lesers.

Bis auf sechs oder sieben Texte kommen alle Gedichte in »InZwischen« ohne die erste Person aus. Jene sechs oder sieben Texte sind aber interessant, will man sich weiter mit dem poetologischen Habitus des Autors ausschließlich durch die Gedichte nähern: »Ich sehe den Kirschbaum. / Ich stelle Ich vor. / Den Kirschbaum. Dem Kirschbaum. Ich sehe voraus, stellt Ich fest … / , dass mir / deiner Vorstellung nach / den Kirschbaum blüht«. Soweit die ersten Zeilen des 16-zeiligen Gedichts.

Schauen wir uns dieses vermeintliche lyrische Ich etwas genauer an: »Ich sehe den Kirschbaum«. Ein Prädikat im Präsens und erster Person mit einem Akkusativobjekt. Uns wird eine optische Wahrnehmung eines Naturphänomens mitgeteilt.

Man braucht nun kein Großmeister der Prädikatenlehre sein, um diesen Satz zu problematisieren. Nur ein Dichter. Denn im zweiten Vers heißt es nun: »Ich stelle Ich vor«. Ab jetzt wird der Text in Bewegung kommen, ab jetzt beginnt die Poesie etwas zu machen mit dem Rezipienten, insofern er sich darauf einlässt. Das Paradoxon, dass »Ich« sich dem »Ich« vorstellt hält nur eine Zeile lang an. Denn schon in der dritten Zeile können wir dem Spiel des poetischen Diskurses auf die Schliche kommen: »Den Kirschbaum. Dem Kirschbaum«. »Ich« wird hier offensichtlich als Platzhalter eingeführt, als eine beliebig austauschbare Variable. Wem stelle »Ich« wen vor? Dem/den Kirschbaum? Oder ist »stelle« nicht im Sinne von Vorstellen zu verwenden, sondern als Bewegungsverb: Ich stelle den Kirschbaum vor oder hierhin oder dorthin? Ich verrücke den Kirschbaum, stelle ihn um.

Wie wir in den folgenden Versfolgen oben beobachten können, tritt noch eine weitere Ebene in die Redeweise ein: »Ich sehe voraus, stellt Ich fest […]«. Fues greift bereits eingeführte Wörter wieder auf, doch was »Ich sehe voraus« sagt, stellt irgendwer fest, »stellt [(z.B.) Stanislaus] fest«. Ich ist eine Variable, ein Platzhalter. Das Verb »stellen« wird, wie wir ganz oben sehen können, in den nächsten Zeilen abermals permutiert: »stellt«, »stellend«, »verstellend«, »Vorstellung«, »vorstellt« usf. Das Agens der poetischen Rede kommt nun zunehmend ins Schleudern und mit ihm die Frage nach dem Wer mit Wem.

Was hier geschieht ist nicht einfachhin eine als Gedicht getarnte Sprachreflexion. Vielmehr präsentiert sich der poetische Diskurs, die Stimme des Gedichts, als eine nicht eindeutig bestimmbare Form der Mitteilung. Sie appelliert infolgedessen implizit an die autonome Verständnisbereitschaft und Verständnislust des Lesers. Indem sie sich als fertige und klare Mitteilung verweigert, wird sie zu einer ambigen ästhetischen Erfahrung, die erst dann konkrete Gestalt gewinnt, wenn sie als solche gemacht worden ist bzw. im Lesen jeweils individuell erschlossen wird. Anders gesagt: Fues nimmt seine Leser ernst, indem er sich ihnen als Instanz der Eindeutigkeit verweigert.

Das Gedicht, die Waage der Vernunft

Es ist deutlich, dass die Fues-Texte von einem Klima des sogenannten Linguistic Turn geprägt sind. Gedichte von jüngeren Autoren hingegen rauchen häufig den kulturalistischen Dope der 90er-Jahre mit ihrem wilden Eintauchen von Gedichten in allerlei historisches Material, in ihrer Thematisierung von kulturellen Phänomenen – etwa Jan Skudlareks Gedichtband »Elektrosmog« (luxbooks 2013), der z. B. Tonfilm, Tonbänder oder Fehlermeldungen am Computer thematisiert; oder etwa Nora Gomringers umfangreich illustrierter Gedichtband »Monster Poems« (Voland & Quist 2013), der allerlei Monster entdeckt. Diese poetischen Konzepte unterscheiden sich nicht nur von Wolfram Malte Fues hinsichtlich ihres Zugangs zur Sprache, sondern auch ihrer eindeutigen Sujet-Wahl, ihrer thematischen Bindung.

Wolfram Malte Fues hingegen dichtet mit einer linguistischen Rationalität, die Struktur der Sprache als Sprache spielt eine zentrale Rolle in seiner dichterischen Arbeit. Dies ist ein Zug, der der zeitgenössischen Lyrik freilich nicht unbekannt ist – man denke an Ulrike Draesner oder Uljana Wolf. Doch die Drastik und Ausschließlichkeit bei Fues ist bezeichnend.

Die konsequente Denkungsart der Fues-Gedichte entwickelt eine beeindruckende Produktivität, die das Gedicht als Meditationsform des Sagens in Position bringt. Die Magie vieler dieser Verse liegt in ihrer Inszenierung von Prozessen, die mit der Sprache als Deutungsmedium zusammenhängen. Die Poetizität der Texte steht dabei immer im Vordergrund, sodass wir es, wie gesagt, nicht mit Kostümierungen von sprachtheoretischen Problemen im Versgewand zu tun haben.

Nehmen wir folgende Verse: »Der Himmel ist hell. / Die Luft ist frisch. / Das Wasser ist klar. // Ist / breitbeinig dreibeinig schreitbeinig / über dem Ameisenhaufen / hellfrischklar / Maschendraht flechtend«.

Wenn man so will besteht das Gedicht aus zwei Abschnitten. Die ersten drei Zeilen bilden den ersten Abschnitt. Vor uns gestellt werden subjektprädikative Sätze. »Hell« sagt etwas über den »Himmel«; »frisch« etwas über die »Luft«; »klar« etwas über das »Wasser«. Soweit so klar.

Ich möchte daran erinnern, dass »Achilles ist ein Löwe« das Grundbeispiel für Metaphern ist. So könnte man fragen, ob es sich tatsächlich hier um adverbiale Attribute handelt, oder ob die Bedeutung eigentlich in einem metaphorischen Prozess generiert wird. Was bedeutet ein heller Himmel, eine frische Luft, das klare Wasser? Alle drei Bestimmungen könnten in gefühlsmäßig positive Erinnerungen übersetzt werden, sodass ihre relativ vordergründige Präsentation als Gedicht an sich die Positivität der damit assoziierten Eindrücke fraglich werden lässt.

Außerdem: »Der«, »die«, »das« – was sollen wir mit dem Spektrum der Genera anfangen, den drei grammatischen Geschlechtern, die uns die deutsche Sprache aufzwingt? Semantisch begleiten diese Genera zudem noch relativ elementare Phänomene »Luft« und »Wasser«.

Im zweiten Abschnitt steht in der ersten Zeile nur »Ist«. Wir erleben nun wieder, wie ein durch relative Regelmäßigkeit geordnetes Sprachsystem aus den Fugen gerät. Insofern wir als Publikum den zweiten Abschnitt des Gedichts als bedeutungsvoll akzeptieren wollen, so sind wir darauf angewiesen eine Lesart zu entwickeln, die zumindest teilweise Zugänge zu den sonderbaren Vorkommnissen gewinnen.

Das Wortmaterial wie auch die Logik des ersten Abschnitts dient nun im zweiten Abschnitt als Folie: Sowohl die drei Attribute werden in einem Vers zusammengezogen »hellfrischklar«. Die Dreierstruktur der ersten drei Verse wird nun in einem Vers paradigmatisch: »breitbeinig dreibeinig schreitbeinig«, wobei der Vers in seiner Kombination von akustischen Wiederholungen (etwa die d/b-Laute sowie den alliterativen Gebrauch des Diphthongs) mit der dreimaligen Emphase auf »beinig« diese Durchbildung des Versbaus hervorhebt – seine Gemachtheit.

Und dann plötzlich: Während im ersten Abschnitt die Elemente »Luft« und »Wasser« im Vordergrund stehen, kommt nun das Element der Erde implizit zur Sprache: als »Ameisenhaufen«, aber auch als Erde in seiner gewaltsamen Begrenzung »Maschendraht«.

Fues bringt das Gedicht als ein paränetisches Moment in Position: Er warnt davor, die allzu gesicherten Deutungsfunktionen und Zeigefunktionen und Mitteilungsfunktionen der Sprache als selbstverständlich anzusehen. Die auf Verstehen, auf Deliberation und Evaluation ausgerichtete Vernunft muss abwägen, was bedeutet werden kann, was verstanden, was ausgedrückt, was mitgeteilt werden kann.

Dazu muss die Sprache an die Grenze ihrer Sprachlichkeit gebracht werden: Das Gedicht wird zum Babylon des Sprechens, entlarvt die Sprache als Sprachspiel und somit ist das Gedicht jene Chance der Vernunft, sich selbst zu kalibrieren. Bei Fues heißt es: »Schläft ein Wie in den Dingen, / die nein zueinander sagen?«

Die Einrenkung der Zeit

»The time is out of joint; O cursed spite! / That ever I was born to set it right!« Der Prinz von Dänemark stellt fest und verflucht sogleich die fundamentale Unordnung der Welt. Er verflucht auch seine unabweisbare Aufgabe, gegen diese Missstände anzugehen. Er steht aber vor dem Widerspruch: die Falschheit der Welt erkennen zu können (oder zu glauben, dass er es könne) und zugleich spürt er die Unmöglichkeit sie vollständig befreien zu können. Hamlet nimmt die Dinge ein bisschen zu ernst. Aber Fues hat eine Antwort darauf – locker bleiben, sich vom Pentameter lösen, minimalistisch arbeiten.

Dass die Zeit aus den Fugen geraten kann, ist inzwischen ein geflügeltes Wort und Wolfram Malte Fues eröffnet seinen Gedichtband, indem er das Hamlet-Syndrom außer Kraft setzt: »Die Zeit ist in den Fugen«. Will nicht heißen, alles sei heil. Im Gegenteil: Fues rechnet es uns vor: »Wurzel aus minus 1st / Fugen-Zeit?«

Die Wurzel aus -1 ist natürlich eine nichtausführbare mathematische Operation. Außer: im imaginären Zahlensystem. Das heißt: Fues schiebt den Realitätsbezug Hamlets getrost zur Seite und schlägt eine Lösung im Feld des Denkbaren vor, im Bereich der Illusion, der Vorstellungskraft, der Imagination: »Für Unbefugte / Zutritt geboten«. Dieser Permutation von eingebürgerten Redewendungen, der Manipulation von gewohnten Kollokationen begegnet man häufig in diesen Gedichten. Vertauschungen geschehen nicht nur auf der Ebene einzelner Verse oder Phrasen, sondern auch auf der übergeordneten Ebene des Gedichts.

Hier ermöglicht das poetische Arrangement dem Leser neue Einsichten. Sie betreffen den grundsätzlichen Habitus, die Einstellung zum Leben – die elisabethanische Panik sein lassen und sich als unbefugt begreifen und sich gerade in die Fugen hineinbegeben. Denn in diesen Zwischenflächen ist die Zeit – »Die Zeit ist in den Fugen«, dort, da ist sie in den Zwischenräumen, dort »InZwischen« wird die Zeit an sich greifbar als Umbruch und Übergang.

Fues präsentiert uns einige Gedichte, darin er die Fugen der Zeit thematisiert. Etwa in diesen Versen, darin die Nacht zur Fuge zwischen Tag und Tag wird: »Die Nacht steht in den Bäumen / und die Bäume stehen ganz still / und dem In wachsen Augen aus Stille / und das Auge für Bäume und Nacht / sieht nach dem Weg / …«.

Spätestens bei solchen Gedichten spürt man sofort, dass sprachbezogene Reflexion im Gedicht nicht der einzige Impuls in der Arbeit von Wolfram Malte Fues sein kann. Man beachte den unmittelbaren Ton, die verklärte Stimmung, die sonderbare Verflechtung der Bedeutungsareale: Zuerst »steht« die Nacht »in« den Bäumen, um dann wiederum die Bäume, in denen die Nacht steht, »ganz still« stehen zu lassen; der Rahmen, »in« dem die Nacht, die Bäume stehen, wird aber nun selbst zur Perspektive der Dinge: »Auge für Bäume und Nacht«, sodass die stehenden Dinge nach dem Weg »sieht«. Es ist als ob die feststehende Dunkelheit selbst sowie die Dunkelheit in den Bäumen nun plötzlich sehnsüchtig hinschaut, wo noch Spuren des Tages sind nämlich »zu der Lichtung, wo / es die ganze Nacht / hell ist […]«.

Es ist fair zu sagen, dass wir es hier mit dem Duktus mystischer Erfahrung zu tun haben bzw. mit einer Inszenierung dieser Erfahrung. Man findet sie überall: etwa in den Schriften von Gregor von Nyssa oder Juan de la Cruz. Es geht plötzlich durch die Texte hindurch eine eigentümliche Metamorphose: »und die Pupille wacht auf / und redet die Helle an / mit Lauten, aus denen / Stille nachwächst«.

Wenn man den Fues-Band durchgeht und die Texte gruppiert, wird man recht schnell feststellen, dass die vor sprachbezogener Reflexion strotzenden Gedichte sich die Waage halten mit Gedichten, die ebensolche Momente veräußern.

Zudem finden sich gesellschaftskritische Texte in diesem Band, die ein bisschen unvermittelt dazwischen stehen. Sie weisen häufig eine parataktische Struktur auf und beziehen Kompositionstechniken mit ein, die listen- oder katalogartig bestimmte Bilder einführen: »Den Kopf aus der Glotze / Die Finger vom Laptop / Das Haar aus der Suppe / Das Herz auf der Linken / Den Stein auf der Rechten« oder, wie es in einem anderen Gedicht heißt: »Die Füße im Wollstrumpf. / Die Nieren im Lammfell. / Die Hand auf der Heizung. / Die Augen an Klappen. / Die Ohren in Watte.« Diese Art von Texten sucht häufig eine Pointe, manchmal auch einfach einen Gag.

Untitled: Kurzer Traktat zum titellosen Gedicht

Wolfram Malte Fues kennt keine Titel. Keiner seiner Texte trägt einen Titel. Selbst dem Band im Großen steht nur ein knappes Wort vor (oder ist es ein Wort oder zwei Wörter oder ein halbes Wort?): »InZwischen« – auch hier problematisiert Fues jene Zeichenfolge, unter der er seine Texte gruppiert und dem Publikum präsentiert.

Ich möchte daran erinnern, dass titellose Gedichte weit verbreitet sind. Das Werk von Emily Dickinson beispielsweise ist noch voller unbetitelten Gedichte. Bei vielen Dickinson-Texten verwenden die Herausgeber in ihrer Verlegenheit einfachhin die erste Zeile oder irgendeine Bezeichnung, die die Dichterin in ihren Briefen oder sonstwo verwendet hatte, um auf ihr Textgebilde hinweisen zu können. Einige der besten Gedichte von Frank O’Hara sind titellos oder bloß mit dem Wort »Poem« überschrieben. In der antiken Literatur finden wir – für Gedichte – so gut wie keine Titel. Catull beispielsweise gibt sich mit der schlichten Charakterisierung Elegiae zufrieden. Sowohl Shakespeares Sonette oder Pounds Cantos sind einfachhin durchnummeriert. Den Autoren schien wohl auszureichen, dass sie die Form benannten bzw. die Form-Tradition bezeichneten, in deren Geist sie ihre Arbeiten wie eine Art Fortschreibung oder ein Depositum hineingegeben haben.

Die Titulatur, die Auszeichnung des Gedichtes mit einem eigenen Namen (die »Erlkönigisierung« der Poesie), ist ohnehin ein eher modernes Phänomen. Was macht aber der Dichter, indem er sein Werk bezeichnet bzw. betitelt? Markiert der Titel nicht eine Art Beherrschung des Gedichts, das dann wie eine Art Subtext einem Titel untersteht? Entreißt der Akt des Titelgebens nicht dem Geiste der Poesie ihre Früchte, indem er ihnen Namen gibt und somit ihre Verkostung rubriziert stattfinden lässt?

Was kann uns das anonyme Gedicht bedeuten? Wir sollten uns daran erinnern, dass im Gegensatz zu einem anderen Kunstwerk – sagen wir einer Skulptur wie etwa Auguste Rodins »Les Bourgeois de Calais« (1895) oder einer Malerei also etwa William Turners »Sunrise with Sea Monsters« (1845) – die Bezeichnung eines sprachlichen Kunstwerks – also insbesondere dem Gedicht, dem (sehr) »kurzen Gedicht« – mit einem Titel als sprachliche Intervention ein besonderekl.ös Problem darstellt: als Hinweis, als Supertext, als Überschrift, als Name, als Leseanweisung, als Rubrizierung, als Marke, als Identifizierung, als Hilfestellung, als Einordnung, als Korrespondenz, als Emblem, als Summe, als Motto, als … als was?

Was sollte eigentlich ein Titel beitragen, das nicht schon im Gedicht vorhanden wäre? Titel und Gedicht treten in ein Konkurrenzverhältnis oder es entsteht eine Art Hierarchie. Fues jedoch verzichtet auf Titel. Er mutet dem Leser zu, sich unmittelbar in den Texten vorzufinden – in diesen knappen Gebilden von vier bis einundzwanzig Zeilen, in diesen knappen Versen, die selten aus mehr als fünf oder sechs Wörtern bestehen.

Die Frankfurter Lyrikerin Martina Weber etwa greift in einigen ihrer Gedichte (»erinnerungen an einen rohstoff«, poetenladen 2013) im Gedicht enthaltene Phrasen heraus, markiert sie im Text fett, fertig. Eine andere Titelstrategie. Aber Wolfram Malte Fues verfolgt doch ein anders Ziel. Er will weder über dem Text einen Titel, noch will er ein bestimmtes Bedeutungszentrum in seinen Gedichten als solches kennzeichnen.

Die Brutalität der Titellosigkeit bei Fues besteht in der dadurch ausgelösten Situation der Konkurrenz – jede Zeile, jedes Wort, ja jeder Laut im Gedicht tritt gegen alle anderen Elemente des Gedichts an. Der Leser ist unmittelbar ins poetische Geschehen verwickelt, ohne die Schwelle eines Titels. Ein gewisses Vertrauen in das Gedicht drückt sich in diesem Verzicht aus. Das Gedicht braucht keinen Namen, denn es ist einfachhin organisierte Sprache. Die Frage nach Titel oder nicht Titel bringt Wolfram Malte Fues folgendermaßen zur Sprache: »Einrahmen oder / unter entspiegeltem Glas / offen lassen?«

Die prinzipielle Offenheit der Sprache in diesen Gedichten überlässt dem Rezipienten jene Hierarchisierung des Sprachmaterials, die man als Verstehen, Konsumieren, Begreifen, Lesen des Gedichts bezeichnen könnte. Es ist eine maximale Offenheit bei einer größtmöglichen Involvierung dessen, der liest; und dies macht den Genuss dieser Verse aus. Sehr zu empfehlen.

Wolfram Malte Fues: »InZwischen«InZwischen
Wolfram Malte Fues
mit Zeichnungen von Thitz
deutsch
Allitera Verlag, München 2014
128 S.
€ 16.00 (Taschenbuch)


Diese Rezensionen werden Ihnen von Paul-Henri Campbell präsentiert. Campbell ist 1982 in Boston (USA) geboren und schreibt Lyrik sowie Prosa in englischer und deutscher Sprache. Gedichtbände: »duktus operandi« (2010), »Space Race. Gedichte:Poems« (2012). Er ist ebenfalls Übersetzer und Mitherausgeber der internationalen Ausgabe der Lyrikzeitschrift DAS GEDICHT (»DAS GEDICHT chapbook. German Poetry Now«). Soeben erschienen ist »Am Ende der Zeilen | At the End of Days. Gedichte:Poetry«.

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