Jubiläumsblog. Ein Vierteljahrhundert DAS GEDICHT
Folge 27: Semier Insayif – Der Mensch hinter dem Dichter

Seit 25 Jahren begleitet die Zeitschrift DAS GEDICHT kontinuierlich die Entwicklung der zeitgenössischen Lyrik. Bis heute ediert sie ihr Gründer und Verleger Anton G. Leitner mit wechselnden Mitherausgebern wie Friedrich Ani, Kerstin Hensel, Fitzgerald Kusz und Matthias Politycki. Am 25. Oktober 2017 lädt DAS GEDICHT zu einer öffentlichen Geburtstagslesung mit 60 Poeten aus vier Generationen und zwölf Nationen ins Literaturhaus München ein. In ihrer Porträtreihe stellt Jubiläumsbloggerin Franziska Röchter jeden Tag die Teilnehmer dieser Veranstaltung vor.

Semier Insayif, geboren 1965, lebt in Wien als Dichter und Schriftsteller. Lesungen und Sprechperformances im In- und Ausland, zahlreiche Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften, Kunstkatalogen, Anthologien und im Rundfunk. Konzeption und Moderation von literarischen Veranstaltungen, kunstübergreifende Projekte mit MusikerInnen, bildenden KünstlerInnen, TänzerInnen.

Insayif veröffentlichte bislang sieben Einzelbände, zuletzt »über zeugungen. Gedichte« (Verlag Berger, 2017). Er erhielt diverse Preise und Stipendien, u. a. das Staatsstipendium für Literatur des österreichischen Bundesministeriums für Bildung 2009/10, das Literaturaufenthaltsstipendium »Casa Litterarum« 2012 sowie das Projektstipendium für Literatur des Bundesministerium für Kunst und Kultur 2014/15.

www.semierinsayif.com

Wer im Oktober 2012 das 20-jährige Jubiläum von DAS GEDICHT miterlebt hat, dem geht es womöglich ähnlich wie mir: Die Ganzkörperperformance »Wortgeburt«, die Semier Insayif zu Beginn des Abends aufführte, hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Da der Schriftsteller und Performer – Sohn einer österreichischen Mutter und eines irakischen Vaters – als Kunst- und Kulturmanager, Fitnessberater, Kommunikations- und Verhaltenstrainer, Schreibwerkstattleiter und Veranstaltungsorganisator mehr als beschäftigt ist, haben wir uns mit seinem neuesten Buch beschäftigt. Michel Ackermann, Klavierpädagoge, Pianist, Autor und Familientherapeut i.A. und Autor dieses Gastbeitrages, hat sich intensiv mit dem Band auseinandergesetzt.

 

Sprache als sechstes Sinnesorgan

Semier Insayifs neuer Gedichtband »über zeugungen«

rezensiert von Michel Ackermann
 

Wen oder was erzeugt Sprache? Sprache erzeugt Wirklichkeit. Doch zunächst nur die Wirklichkeit der Sprache, denn, um es mit den Worten von Gertrude Stein auszudrücken: »Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose«. Und sie hat damit wohl auch sagen wollen, dass die wirkliche Wirklichkeit nicht die der Sprache ist. Bei Semier Insayif erklingen hintergründige Botschaften auf ganz andere Weise und doch ähnlich:

»durch dein letztes / wort gerutscht / stoß ich mich / an dir oder an mir / erwache in einem / fremden traum«

Die Wirklichkeit der Welt ist auch ihm eine andere. Eine andere als die der Sprache, die ihre eigene Wirklichkeit im Denken über die Welt beschreibt. Unser Denken über die Welt. Im Interview mit Franziska Röchter auf DAS GEDICHT blog (Gipfelruf Folge 4) sagt Insayif hierzu:

»[Der Leser soll das Denken] nicht ausschalten, aber ich halte leidenschaftliche plädoyers fürs ›nichtverstehen‹ oder besser gesagt fürs ›nicht zu voreilige verstehen‹ oder anders gesagt fürs ›mehrsinnige verstehen‹. der sinn ist nicht die letzte schicht eines textes. nicht immer sinnzentriert hören, sondern auch sinnenzentriert.«

Und: »die poetische präzision ist aus meiner sicht eine öffnende, weniger eine schließende. jedes wort, jeder laut, jeder vers … öffnet mehrere fenster zu einer welt, die dadurch in vielerlei perspektiven unterschiedlichst wahrnehmbar wird.«

Collage Semier Insayif mit Bildern aus dem privaten Archiv. Gestaltung: Franziska Röchter
Collage Semier Insayif mit Bildern aus dem privaten Archiv. Gestaltung: Franziska Röchter

Wir können vermuten: Sprache erzeugt eine ›mehrsinnige‹ Identität, indem sie uns hilft, uns selbst in unserer (denkenden) Bewegung zu bestimmen. Auch ist sie in dieser Bewegung ein Werkzeug der Verbindung, zwischen Menschen und anderen Wesen der Natur und ihren Elementen:

»striche deiner kehle / fliegen auf / und schrieben sich / (gegen jeden plan) / als vogelschwarm / mit tintenfedern / in ein abgrundtiefes blau / geschwätzig hängen sie geschwärzt / in allen winden.«

Wörter bezeichnen die Dinge, aber nur ein bisschen. Vielmehr bringen sie diese um uns herum zum Erklingen. Durch ihre Verbindungen im Wortklang entsteht dabei eine neue, gleichsam verdoppelte Wirklichkeit: Die Wirklichkeit der Dinge, nachdem Sprache sie an ihre Wörter gebunden hat. Das ist die Wirklichkeit der Natur der Dinge, wie wir sie sehen, in Sprache und ihren unendlichen Ausdrucksmöglichkeiten:

»aus klang ein licht durchs / zwischen dunkel riechts und duftet sich / aufs blatt und ab gegriffen pflückt was / sät die saat so hoch geschleudert taumelt«

Wir lesen, hören und fühlen es: Insayif geht es um die sinnlich erfahrbare Welt, die hinter den Wörtern in uns wirkt. Die Wörter sollen uns helfen, Klang, Geschmack, Geruch und das in sich verschlungene Bildermeer der Erfahrung besser in uns zu verankern. Das Erleben wird hierfür in Worten verstärkt: Wir können unsere Sinnesorgane über eine erdichtete Sprache verstärken. Sprache wird in Insayifs Gedichten zum Sinnesverstärker in Worten, die sich dem zu voreilig eindeutigen Sinn entziehen. Und auch entziehen wollen.

Denn Worte werden in der Lyrik nicht um ihrer Eindeutigkeit willen verwendet, sondern um ihre Vieldeutigkeit im Kontext zu feiern. Der immer ein besonderer ist. Hier ist er lose, ein Zusammenhang, der in Worten verschüttet, verschenkt wird. Es glitzert, rauscht und tönt, als gelte es, nicht Sinn herzustellen, sondern einen solchen endgültig der Sinneswelt zu unterstellen. Die Sinne siegen gegen den Sinn, zumindest in einer Lyrik wie dieser, die die Kraft zweier Herkunftswelten in sich vereint.

Semier Insayif ist zweisprachig aufgewachsen, sein Vater stammt aus dem Irak. Hier und da werden in die Verse auch arabische Schriftzeichen eingefügt, die der arabischunkundige Leser weder lesen noch in sich hören kann. Was dem Charme der unerwarteten Verweise keinen Abbruch tut, zumal der Ansatz der Gegenüberstellung zweier fremder Sprachkulturen in früheren Arbeiten bereits von Insayif konsequent verfolgt wurde. Hörbar ist einem Leser, der schon ein wenig in arabische Poesie eintauchen konnte, der arabisch-poetische Hintergrund in Insayifs Versen allemal: In seiner sinn- und sinnesbezogenen Musikalität liegt in meinen Ohren das kleine Wunder dieses Lyrikbandes.

 
Semier Insayif
über zeugungen

Gedichte
Reihe Neue Lyrik aus Österreich, Band 18
Verlag Berger, Horn 2017
64 Seiten, Paperback
ISBN 978-3-85028-767-8

 

Franziska Röchter. Foto: Volker Derlath

Unser »Jubiläumsblog #25« wird Ihnen von Franziska Röchter präsentiert. Die deutsche Autorin mit österreichischen Wurzeln arbeitet in den Bereichen Poesie, Prosa und Kulturjournalismus. Daneben organisiert sie Lesungen und Veranstaltungen. Im Jahr 2012 gründete Röchter den chiliverlag in Verl (NRW). Von ihr erschienen mehrere Gedichtbände, u. a. »hummeln im hintern«. Ihr letzer Lyrikband mit dem Titel »am puls« erschien 2015 im Geest-Verlag. 2011 gewann sie den Lyrikpreis »Hochstadter Stier«. Sie war außerdem Finalistin bei diversen Poetry-Slams und ist im Vorstand der Gesellschaft für
zeitgenössische Lyrik. Franziska Röchter betreute bereits 2012 an dieser Stelle den Jubiläumsblog anlässlich des »Internationalen Gipfeltreffens der Poesie« zum 20. Geburtstag von DAS GEDICHT.


Die »Internationale Jubiläumslesung mit 60 Poetinnen und Poeten« zur Premiere des 25. Jahrgangs von DAS GEDICHT (»Religion im Gedicht«) ist eine Veranstaltung von Anton G. Leitner Verlag | DAS GEDICHT in Zusammenarbeit mit dem Kulturreferat der Landeshauptstadt München. Mit Unterstützung der Stiftung Literaturhaus. Medienpartner: Bayern 2.

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Literaturhaus München


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