Seit 25 Jahren begleitet die Zeitschrift DAS GEDICHT kontinuierlich die Entwicklung der zeitgenössischen Lyrik. Bis heute ediert sie ihr Gründer und Verleger Anton G. Leitner mit wechselnden Mitherausgebern wie Friedrich Ani, Kerstin Hensel, Fitzgerald Kusz und Matthias Politycki. Am 25. Oktober 2017 lädt DAS GEDICHT zu einer öffentlichen Geburtstagslesung mit 60 Poeten aus vier Generationen und zwölf Nationen ins Literaturhaus München ein. In ihrer Porträtreihe stellt Jubiläumsbloggerin Franziska Röchter jeden Tag die Teilnehmer dieser Veranstaltung vor.
In seiner lyrischen Welt ist Arne Rautenberg kompromisslos. Wieso ihm jedes Wort gleich wichtig ist, weshalb er sich bei eigenen Gedichten nicht gerne hineinreden lässt und warum Schulen mehr Poesie fördern sollen, erklärt er Franziska Röchter.
Es gefällt mir, wenn Gedichte elegante Gebilde bleiben dürfen.
Lieber Arne Rautenberg, Sie haben neben Kunstgeschichte und Neue Deutsche Literaturwissenschaft auch Volkskunde / Anthropologie studiert. Welche Motivation steckte seinerzeit dahinter?
Ich wollte mein Studium nutzen, um etwas zu verstehen. Etwas über Kunst, etwas über Literatur und etwas über Menschen. Volkskunde ist da eine wunderbare Disziplin. Allein meine drei Prüfungsthemen: Heftchenliteratur, Jeans und die Geschichte des Walfangs in Schleswig-Holstein. Kann ich nur empfehlen.
Seit 2006 sind Sie Lehrbeauftragter an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel für Zeichnung und Druckgrafik. Ihr neuestes Kinderbuch »rotkäppchen fliegt rakete, neue gedichte für kinder« (Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2017) hat ein Kollege von Ihnen, Jens Rassmus, der Kommunikationsdesign / Illustration lehrt, wundervoll illustriert. Hätten Sie es aber nicht auch selbst machen können?
Ich kann nicht so gut zeichnen. Das ist für meinen Lehrauftrag in der Kunsthochschule auch nicht so wichtig. Da ist es wichtiger, dass ich einen Killerinstinkt für Gegenwartskunst habe, den ich weiterzugeben suche. Zeichnen können andere besser. Jens Rassmus ist einer der großartigsten Bilderbuchkünstler unserer Republik. Ich arbeite unheimlich gern mit Vollprofis wie ihm zusammen.
Meine Kinder sind mir Inspiration, liefern Ideen und sind meine härtesten Testleser.
Anscheinend muss man nicht selbst Vater sein, um gute Kindergedichte schreiben zu können, lernte ich jüngst. Aber ist es nicht zumindest äußerst hilfreich, selbst Kinder zu haben, an denen man die Gedichte testen kann?
Ich wäre ohne meine Kinder niemals auf die Idee gekommen, Gedichte für Kinder zu schreiben. Sie sind mir Inspiration, liefern Ideen und sind meine härtesten Testleser. Inzwischen fallen mir Kindergedichte auch jenseits meiner Kinder zu und es ist mein Plan, immer mehr zu schreiben.
Gedichte sind freie Gebilde, in denen der Dichter entscheidet, was und wie er es macht.
Bekommen Sie schon mal Schelte von Pädagogen, weil Sie auch in Kindergedichten durchgängig die Kleinschreibung verwenden?
Ist mir noch nie passiert. Manchmal werde ich gefragt, warum ich das tue. Dann erkläre ich, dass Gedichte freie Gebilde sind, in denen der Dichter entscheidet, was und wie er es macht. In der Welt gehe ich viele Kompromisse ein, doch in meinen Gedichten bin ich der Chef. Und da ich auch auf die Optik in einem Text Wert lege, gefällt es mir, wenn Gedichte elegante Gebilde bleiben dürfen, in denen einige Worte nicht wichtiger aussehen als andere, nur weil sie großgeschrieben sind. Schließlich mache ich mir ja in einem Gedicht über jedes einzelne Wort Gedanken. Mir sind alle Worte gleich wichtig.
Sie sind ja auch ein Verfechter unkonventioneller Methoden, um in den Schulen mehr Lust auf Gedichte zu machen. In einem FAZ-Artikel vom 5. März 2016 werben Sie für Uwe-Michael Gutzschhahns Idee, zu Beginn jeder Deutschstunde ein Gedicht zu verlesen oder vorlesen zu lassen. Was würden Sie einer Lehrkraft entgegnen, die solch einen Vorschlag mit einem lapidaren »Das geht einfach nicht!« abtut?
Dass ich es schade finde, dass in den Lehrplänen so wenig Raum fürs Mitwachsen der geistigen Größe getan wird. Poesie braucht wenig Zeit und kann viel beim freien Aufdenken helfen. Auf diese Weise eine poetische Vorlesekultur zu stärken, dass sie zur Selbstverständlichkeit wird, darin sehe ich eine große Chance.
In der Schule wird der kreative Pool der Kinder ausgetrocknet.
Wenn Sie schreiben: »Die Arbeit in Schulen scheint mir unerlässlich, um die Sprache als Hort der Möglich- und Widerspenstigkeit weiterzugeben …«, muss ich etwas schmunzeln. Natürlich behauptet jeder Lehrer, dass Kinder an den Schulen selbstständiges Denken lernen sollen, allerdings wollen sicher nur wenige Lehrer allzu kritische oder gar widerspenstige Schüler, das wäre ja unbequem … Selbstständiges ›In-der-Spur-Denken‹ ist da doch sicher viel praktischer …?
In der Schule wird der kreative Pool der Kinder im Sinne der Vergleich- und Bewertbarkeit ausgetrocknet, weil Erwachsene glauben, dass das zum Erwachsenwerden dazu gehört. Doch das ist nicht so.
In einem anderen FAZ-Artikel von 2015 schreiben Sie ein leidenschaftliches Plädoyer gegen das ausschließlich Funktionelle – auch wenn Sie sich inzwischen »eine leicht glitschige Freundlichkeit samt kleinbürgerlichem Wattepanzer zugelegt« haben, »um einigermaßen reibungslos klar zu kommen« – und werben für die Vogelfreiheit des Wortes. Darüber hinaus führen Sie einen zusätzlichen Kreuzzug für den Erhalt der traditionellen Wasserglaslesung, die Kraft des Wortes müsse genügen, dem immer stärker werdenden Event-Charakter bei Lesungsveranstaltungen möchten Sie entgegentreten. Funktioniert das denn wirklich noch?
In meinen Lesungen, ob in der Schule oder vor erwachsenen Publikum, stelle ich fest: das funktioniert ausgezeichnet. Vielleicht sogar besser denn je. Es ist für alle erleichternd, sich mal wieder aufs bloße Wort im Raum konzentrieren zu dürfen. Poesie pur.
2010 haben Sie »In a Ribbon of Rhythm« von Lebogang Mashile übersetzt, die für ihren 2005 erschienenen ersten Gedichtband 2006 den hochdotierten NOMA-Preis erhielt. Was ist das Besondere an Mashiles Gedichten?
Lebogang Mashiles Gedichte sind suggestiv, verwunschen, kraftvoll und erzählerisch. Es hat mich gereizt, dieser stark die Weiblichkeit betonenden Stimme aus einem anderen Winkel der Welt näher zu kommen.
Es ist mein Programm, keins zu haben.
2013 sind Sie mit der 17. Kieler Liliencron-Dozentur ausgezeichnet worden. Die Kieler Liliencron-Dozentur für Lyrik ist die einzige ausschließlich der Lyrik vorbehaltene Poetikdozentur in Deutschland. Verraten Sie uns das Thema Ihrer seinerzeit gehaltenen Vorlesung?
Es ging ums Zulassen, ums Offensein und Offenbleiben. Darum, dass es mein Programm ist, keins zu haben. Ich gehe einfach immer dahin, wo meine Ideen mich hinhaben wollen.
Sie sind ja auch öfter auf dem Kieler Literaturtelefon zu hören, das Mitte der Siebzigerjahre durch Michael Augustins Betreiben ins Leben gerufen wurde. Ihre Audio-Beiträge werden aber nicht auf Dauer archiviert, sondern nach 14 Tagen aus dem Netz genommen. Warum sind Sie etwas vorsichtig mit Ihren Inhalten im Netz? Auf lyrikline.org sind Sie ja auch dauerhaft zu hören?
Ich fühle mich im Netz irgendwie gebannt. lyrikline.org ist allerdings eine der besten Seiten, die ich nutze, um mir andere Dichterstimmen zu geben. Doch durch irgendwelche sozialen Netzwerke oder Blogs rumzugeistern, das ist nichts für mich. Ich habe eine gut gepflegte Internetseite, ich denke, das muss genügen. Ich glaube, dass das echte Leben mit handgeschriebenen Briefen, Lesungen, persönlichen Gesprächen etc., also das analoge Leben, viel mehr Zukunft hat als Facebook & Co.
Ich bin ein reisender Dichtersmann geworden. Und ich liebe das.
2012 sagten Sie in dem Fragebogen anlässlich des 20-jährigen Jubiläums von DAS GEDICHT: »Leider macht Dichten arm …« Wie kommt man dann so zurecht? Als Lehrbeauftragter im Bereich Kunst hat man doch wahrscheinlich keinen Nine to five-Job? Sind Stipendien und Preise – Sie haben unter anderem 2016 den Josef-Guggenmos-Preis erhalten – eine gute Überlebenshilfe?
Ich verdiene mein Geld hauptsächlich mit Lesungen. Vielleicht mache ich so zehn Lesungen vor Erwachsenen und 70 – 80 Schullesungen pro Jahr. Das ist eine ganze Menge. Ich bin ein reisender Dichtersmann geworden. Und ich liebe das.
Lieber Arne Rautenberg, vielen herzlichen Dank.
Arne Rautenberg
Nulluhrnull
Horlemann Verlag, Angermünde 2017
Softcover, 92 Seiten
ISBN 978-3-89502-402-3
Arne Rautenberg
Rotkäppchen fliegt Rakete
Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2017
Hardcover, 48 Seiten
ISBN 978-3-7795-0580-8
Arne Rautenberg nimmt an der Jubiläums-Lesung am 18.11.2017 in Schleswig teil.
Unser »Jubiläumsblog #25« wird Ihnen von Franziska Röchter präsentiert. Die deutsche Autorin mit österreichischen Wurzeln arbeitet in den Bereichen Poesie, Prosa und Kulturjournalismus. Daneben organisiert sie Lesungen und Veranstaltungen. Im Jahr 2012 gründete Röchter den chiliverlag in Verl (NRW). Von ihr erschienen mehrere Gedichtbände, u. a. »hummeln im hintern«. Ihr letzer Lyrikband mit dem Titel »am puls« erschien 2015 im Geest-Verlag. 2011 gewann sie den Lyrikpreis »Hochstadter Stier«. Sie war außerdem Finalistin bei diversen Poetry-Slams und ist im Vorstand der Gesellschaft für
zeitgenössische Lyrik. Franziska Röchter betreute bereits 2012 an dieser Stelle den Jubiläumsblog anlässlich des »Internationalen Gipfeltreffens der Poesie« zum 20. Geburtstag von DAS GEDICHT.