Bücher können auftauchen und glänzen, aber auch einstauben und verschwinden – immer jedoch, und ganz gleich, wie alt sie sind: ihre Texte wollen neuentdeckt werden! David Westphal stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor.
Arno Holz ist kein Name, den man heute noch allzu häufig hört – obwohl bereits eine kurze Internetrecherche ergeben hat, dass er durchaus noch zum Schulkanon gehört. Dabei war er 1929 sogar für den Literaturnobelpreis nominiert (erhalten hat er ihn jedoch nicht). Dass er heute so wenig präsent ist, überrascht schon deshalb, weil sein Buch der Zeit den Untertitel Lieder eines Modernen trägt – was den Inhalt in der Tat treffend beschreibt. Holz (1863 – 1929) war sowohl in seiner Lyrik als auch in seinen theoretischen Schriften erpicht darauf, Demarkationslinien zwischen seinem Verständnis von Lyrik und dem althergebrachten Verständnis zu schärfen. Modern ist sein Buch der Zeit also, weil es versucht, neue Wege zu gehen. Dazu gehört auch: Neue Formen werden ausprobiert, das linksbündige Gedicht etwa ist nicht der alleinige Leistungsträger. Es darf auch mal links und rechts flattern, wenn das Gedicht auf der Mittelachse angeordnet ist. Sprachlich steht seinen Versen der Naturalismus nahe. Nicht lehrbuchhaft, so wie man es schulmeisterlich an Hauptmanns Bahnwärter Thiel lernt, aber doch eindeutig, wenn er auf derbe Sprache und Dialekt zurückgreift. Er möchte betont unpoetisch und sprachlich alltäglich klingen, nicht aber ohne Aufreger, Reim und Verse, was sich etwa auch hier zeigt:
Ihr lasst um jede Attitüde
Ein weissgewaschnes Hemdchen wehn,
Denn um die Schönheit nackt zu sehn,
Sind eure Seelen viel zu prüde!
Das schreibt Holz im Gedicht An Neunundneunzig von Hundert an die schwarz Befrackten. Die Perspektive der Arbeiterklasse, das muss dazu angemerkt werden, liegt in der DNS des Naturalismus, dabei wird aber nicht unbedingt eine sozialistische Haltung eingenommen. Insgesamt ist sein Buch der Zeit durchaus ein verkopftes Werk, jedoch mit gewitzten und bissigen Zuspitzungen. Doch wie modern ist es wirklich? So manche Phrase drischt er – vielleicht eine naturalistische Projektion? Zur Avantgarde hat er nicht gehört, jedoch ist es nicht unwahrscheinlich, dass er zur Lektüre der Avantgarde gehörte. Bruno Latour hat es mal mit einem Buchtitel auf den Punkt gebracht: Wir sind nie modern gewesen. Sich durch Holz’ dicke Gedichtbücher zu blättern, bleibt gerade deshalb interessant, sind sie doch mit einem großen Zeitanspruch bzw. der Zeitenwende im Blick geschrieben worden – ohne das Wissen, dass die Zeitenwende den Nationalsozialismus ermöglichen werden würde. Literarisch war es um 1900 extrem spannend, und das merkt man dem Buch der Zeit allzeit an.
Arno Holz
Buch der Zeit
Lieder eines Modernen
Verlags-Magazin Zürich 1886
429 Seiten

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.