Neugelesen, Folge 65: »Verse für Zeitgenossen« von Mascha Kaléko

Bücher können auftauchen und glänzen, aber auch einstauben und verschwinden – immer jedoch, und ganz gleich, wie alt sie sind: ihre Texte wollen neuentdeckt werden! David Westphal stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor.


Da ich durch lästige Umstände schon seit November nicht zu meinen Büchern darf, hatte ich mir heute nach der Arbeit überlegt, einfach in einen Buchladen zu laufen und mal zu sehen, was das Lyrik-Regal mir so zu präsentieren hat. Selbst für Leseratten ist das nicht mehr so üblich. Man stöbert doch meist im Internet und bestellt es dann im Buchladen (oder schlimmer …). Natürlich waren dort die als Klassiker in eine Schublade gesteckten Goethes, Ringelnatzens, Schillers und andere. Natürlich auch in Reclam-Gelb. Aber die habe ich alle schon. Also erregte stattdessen dann ein halbes Frauengesicht meine Aufmerksamkeit: Mascha Kalékos Konterfei in Rot- und Orangetönen auf einem Pappdeckel. Der Titel des Bandes: Verse für Zeitgenossen. Unbesehen habe ich ihn zur Kasse getragen. Ich musste sofort an den Band Gedichte für Zeitgenossen. Lyrik aus 50 Jahren von 2011 denken, den mir Anton G. Leitner, kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten, geschenkt hat. Allerlei Ereignisse der vergangenen 50 Jahre sind darin thematisiert wie auch überzeitliche Themen zeitgenössisch bearbeitet. Von wann Kalékos Band war? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass sie zu Beginn des letzten Jahrhunderts geboren wurde. Nämlich 1907 war das.

Beim neu erworbenen Band nun ist der Ansatz ein ganz anderer: Im kurz gehaltenen Nachwort von Gisela Zoch-Westphal erfährt man, dass die im amerikanischen Exil lebende Kaléko diese Gedichte im Jahre 1945 geschrieben hat. Der Verleger Ernst Rowohlt hat diesen Band dann 1958 in den deutschen Buchmarkt eingeführt. Auch dieser zeitliche Abstand unterstreicht: Die Literaten und Literatinnen haben um 1945 viel aushalten müssen – man weiß es, ich brauche da nicht weiter auszuholen.

Die eine Hälfte des Gesichts ist lyrisch,
Die andere hingegen fast satirisch.

Das schreibt Kaléko in ihrem Januskript und bezieht sich auf die Metapher der Janusköpfigkeit. Denn über die Vergangenheit stimme man sich meistens lyrisch, über das Gegenwärtige jedoch satirisch. Ich war nach erstem Aufschlagen des Buches sehr gespannt darauf herauszufinden, was an dieser Stelle wohl mit lyrisch gemeint sein könnte. Aber zweifellos erwartete ich doch ein Wechselspiel aus geschichtlichen Zusammenhängen und satirischem Kommentar, verfasst in Versen. Nur allzu satirisch und zeitgenössisch sind die Verse für Zeitgenossen nicht: Wie viele Mütter lobt sie ihr Kind, sieht es als Genie, es fallen Worte wie frohlocken, Liebeskummer wird in Sterbensnähe gerückt, und sie lässt im Dunkel ein Nachtkäuzchen während eines Herbstabends schreien. Im Angesicht des Jahres 1945 halte ich es nicht gerade für satirisch, sondern eher für zynisch, diesen Band zeitgenössisch zu nennen. Das waren meine ersten Gedanken nach ungefähr fünfzig Seiten dieser Verse. Ich musste an meine liebsten Literaten dieser Zeit denken und über ihren Begriff dieser Zeit. Kafka, Benn, Döblin, Celan, Bachmann und so weiter.

Aber vielleicht bin ich auch einer falschen Fährte aufgesessen, dachte ich mir dann. Denn neben so manchem, das man heute als Kitsch bezeichnen könnte, liegen Weisheiten offen herum. Über Liebe, das Leben und den Tod, und durchaus anknüpfungsfähig selbst aus heutiger Perspektive. Und sind da nicht verführerische Rhythmen, Reime und Melodien, die in die Texte ziehen? Nicht zuletzt eine schwere Tiefe in einigen wenigen Gedichten dieses Bandes? Ich bleibe mir bis zum Ende des Buches unsicher. Und ich erinnere mich, dass die Berliner Band Dota aus einigen der frühen Gedichte Kalékos verträumte Pop-Lieder gemacht hat. Das funktioniert gut! Doch richtig zeitgenössisch finde ich da auch nichts.


Mascha Kaléko
Verse für Zeitgenossen
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Gisela Zoch-Westphal
Rowohlt 2025 (für die Erstausgabe: Rowohlt 1958)
Softcover
112 Seiten
13,00 Euro
ISBN 978-3-499-01677-6


David Westphal. Foto: Volker Derlath
David Westphal (Foto: Volker Derlath)



David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.




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