Bücher können auftauchen und glänzen, aber auch einstauben und verschwinden – immer gilt jedoch, ganz gleich, wie alt sie sind: Ihre Texte wollen neuentdeckt werden! David Westphal stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor.
Was ist die Zukunft des Menschen? Wer das fragt, denkt vermutlich an Klima, Trinkwasser, Ernährung, Zivilisation, Politik und Kultur. Was fehlt in dieser Aufzählung? Zum Beispiel unser Körper. Die Zukunft des Körpers. Gibt es so etwas? Der Körper durchlebt einen gewissen Zyklus, von der Geburt bis zum Tod. Und der Körper entwickelt sich stammesgeschichtlich sozusagen vom Einzeller zum heutigen Menschen. Der Lebenszyklus ist hinlänglich bekannt – und die Zukunft der menschlichen Evolution? Sie ist kaum vorherzusehen, da die Entwicklungsmechanismen äußerst langsam im Vergleich zu einem menschlichen Leben ablaufen. Was bleibt übrig von der Frage nach der Zukunft menschlicher Körper?
In der Ausstellung Future Bodies from a Recent Past im Museum Brandhorst in München ist man solchen Fragen künstlerisch auf den Grund gegangen. Von Juni 2022 bis Januar 2023 war die Ausstellung zu sehen. Sie galt der Skulptur, der Technologie und dem Körper seit den 1950er Jahren, wie man aus dem Untertitel erfährt. Doch was schreibe ich hier über Skulpturen, Technologie und Körper, wo es doch um Gedichte geht?
Die Ursache liegt in einem geradezu beiläufigen Fund, der eng mit dieser Ausstellung zu tun hat und doch nicht ausgestellt wurde. Zum Hintergrund: Wie zu jeder Ausstellung in renommierten Kunsthäusern ist auch zu dieser Ausstellung ein Katalog erschienen. Er beinhaltet ein paar einführende Worte, viele Ausstellungsbilder, aber auch sehr viele Informationen und Essayistisches über die Ausstellung hinaus. Und noch vor dem Inhaltsverzeichnis findet sich etwas, das man durchaus Gedicht nennen darf. Ohne Titel, ohne Autorin. Beinahe ein Langgedicht über acht Seiten. Schwarzer Druck, variable Schriftgröße auf zartem Rosa. Die Farbe erinnert an Fleisch oder ein helles Nagelbett. Es gibt keine Syntax oder Verse. Es werden ausschließlich Wörter aneinandergereiht: jede Zeile ein Wort. Im Wechsel finden sich zwei unterschiedliche Schriftarten. Ein formaler Dualismus zwischen Schriftarten mit und ohne Serifen. Die Substantive, in Serifenschrift gesetzt, beinhalten leblose Materie, wohingegen die Substantive, in serifenlosen Lettern gesetzt, mit dem menschlichen Körper assoziiert sind. Also zum Beispiel Gips, Motor, Code und Lack. Oder Blut, Schritt, Estrogen, Psyche. Das Wechselspiel ergibt dabei bemerkenswerte Wortpaare. »Transmitter / Haut« ist eines davon: Man wird durch es dazu verleitet, die Haut technisiert zu denken. Dieser Typus des Wortspiels erhält sich über alle acht Seiten. Man kann geradezu zwischen den Zeilen abtauchen und seinen eigenen Körper in Frage stellen.
Ein Wort, das zweifach vorkommt, ist das Implantat. Beide Male serfienlos, also auf der körperassoziierten Seite. Jedoch ist es ja weder aus dem Körper gewachsen noch kohlenstoffbasiert: eine klare Durchschreitung dualistischer Grenzen. Und die gibt es im ganzen Gedicht; spannenderweise mithilfe des formalen Dualismus, nicht ihm zum Trotz. Es geht hier um ein permanentes Durchkreuzen der körperlichen Grenzen, die uns im Alltag als gesetzt erscheinen, historisch, technologisch sowie individuell, die aber durchlässig sind (wie etwa im Fall eines Implantats). Das Gedicht bringt all die Prothesengötter und Cyborgs auf den Plan. Ein Gedicht, das nicht einmal einen Titel oder eine Autorschaft kennt. Vielleicht auch geschrieben von einer Art Cyborg. Doch das werden wir nicht erfahren. Ein unerwarteter Fund, der vielleicht nicht einmal Gedicht sein will, aber doch so dicht ist, dass er dieser Zuschreibung nicht auskommt.

Patricia Dander (Hg.)
Future Bodies from a Recent Past
Sculpture, Technology, and the Body since the 1950s
Deutscher Kunstverlag 2022
Hardcover, Leinen mit Schutzumschlag
240 Seiten, 201 Farbabbildungen, 49,00 €
ISBN: 978-3-422-99024-1

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.