Neugelesen – Folge 8: Karol Kröpcke: »Bürgerliche Gedichte«

Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).

 

Ganz schön heiß hier. In diesem Sommerloch.
Macht der Punkt etwas Unanständiges mit diesen beiden Teilsätzen? Wer wird nun schon an etwas Schmutziges denken? Der Anton G. Leitner Verlag muss jedenfalls keine Angst davor haben, dass meine kleine (Nicht-?) Schweinerei dem Unzüchtigkeitsparagraphen 184 des StGB zum Opfer fallen könnte. Ganz im Gegensatz zum Merlin Verlag und den Gedichten von Karol Kröpcke. Als sein Gedichtband mit dem Titel Bürgerliche Gedichte 1970 erschien, hat die Hamburger Staatsanwaltschaft eben wegen eines Verstoßes gegen § 184 des StGB ermittelt – vergebens – zum Glück!
Es gibt viele erotische Gedichte in der Lyrikwelt, man spürt es prickeln und knistern, Dinge werden durch die Blume gesagt, um nicht den verführerischen Schleier zu lüften; sie spielen mit der Lust, lassen sie gerade so zu. Das alles machen Kröpckes Gedichte nicht. Sie sind explizit, sie sind pornographisch. Aber sie sind zu jederzeit künstlerisch, wortgewandt und von schwer zu schlagendem Einfallsreichtum. Wer sich nun darüber erhebt und meint: »Pornographie, ja das kann man schon mögen, aber mir wäre das zu inhaltsentleert«, der sei zurück auf den Boden geholt. Die Spielarten der Pornographie sind gut ausgeschöpft und die Gedichte in keiner Silbe abwertend. Jeder und jede wird zwar in ihnen die Grenzen seiner Anstößigkeit finden. Gleichzeitig sind es aber bürgerliche Gedichte, sie sind in der Mitte der Gesellschaft und offenbaren nur, was schon immer da war. Schonungslose Ehrlichkeit, gepaart mit hoher, dichterischer Qualität – das zeichnet die Gedichte von Karol Kröpcke aus.
Ich weiß, dass ich mit meiner bescheidenen Kolumne keine Chance habe, die lyrische Welt von Pornographie zu überzeugen, aber ich habe einen wichtigen Schirmherren bei mir: Karl Krolow. Denn Karol Kröpcke ist sein Pseudonym, das er wählte, um eben jene bürgerlichen Gedichte zu veröffentlichen (wie sich gezeigt hat, aus guten Gründen). Trotzdessen er in diesem unserem Jahrzehnt, das wir gerade schreiben, keine so bedeutende Rolle spielt, ist er doch eine große und wichtige Figur des letzten Jahrhunderts gewesen. Wer ernsthaft an der Lyrik interessiert ist und nicht nur Gelegenheitsleser, der darf diesen Band eigentlich nicht auslassen. Ich persönlich kenne nichts Vergleichbares, so voll mit Frische und Schmutz, Körperlichkeit in unverblühmte Worte gegossen, geistige Ergüsse neu gedacht – und Zeichnungen, die keinen Zweifel darüber zulassen, dass es sich tatsächlich um Pornographie und um Kunst handelt. Keine Widersprüche also in dieser bürgerlichen Mitte – und ganz schön heiß …
 

Karol Kröpcke
Bürgerliche Gedichte. Mit 36 Zeichnungen von Arno Waldschmidt

Merlin Verlag 1970
Hardcover, 50 Seiten
ISBN: 39206370125


 

David Westphal. Foto: Volker Derlath
David Westphal. Foto: Volker Derlath

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.

Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.

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