»oder wie heißt diese interplanetare Luft« von Odile Kennel

rezensiert von Paul-Henri Campbell

Odile Kennel »oder wie heißt diese interplanetare Luft«

Odile Kennel ist 1967 in Baden geboren und zweisprachig aufgewachsen. Das Deutsche wie das Französische ist ihr in die Wiege gelegt worden und doch scheint die Dichterin aus Brühl unablässig das Weite zu suchen mit Stationen in Tübingen, Lissabon, Bukarest, Dijon und schließlich Berlin, wo sie heute lebt. Ihr Oeuvre umfasst bisher eine Reihe vorzüglicher Übersetzungen aus dem Portugiesischen, Spanischen und dem Französischen – z. B. »Ich weiß nicht warum. Zeichnungen und Texte für Unica Zürn.« von Érica Zíngano (hochroth 2013), »Rilke Shake« von Angélica Freitas (Luxbooks, 2011). Außerdem ist ein Roman erhältlich, »Was Ida sagt« (dtv, 2011).

Ihr neuer Gedichtband trägt den Titel »oder wie heißt diese interplanetare Luft« (dtv, 2013) und ist ein Kunstwerk voller Unbehagen, zarter Innerlichkeit, einem Blick für die Zeichen der Zeit und getragen von dem Streben nach Glück. Odile Kennel beherrscht die seltsame Metaphysik, die das Diesseits liebt: »auf einmal, da war ich / an dieser Stelle aus meinem Leben / heraus, an dieser Stelle war / wenn man genau hinsah, nichts« (Kennel: & dann fang ich noch einmal mit der Zeile an).

Zielen diese Zeilen nicht auf die Grunderfahrung der Vielgewanderten: sämtlichen Zusammenhängen unwiederbringlich entfallen zu sein, fremdvertraut zu sein, zu fremdeln überall? Ist die Erfahrung »aus meinem Leben« zu sein und, wie Kennel oben schreibt, »auf einmal« nicht vielleicht eine Art condition humaine im 21. Jahrhundert mit seinen Billigflügen und seiner hedonistischen Expatriate-Romantik?

Doch Odile Kennel geht es um viel mehr; es geht ihr um den Wendekreis des Glücks – in einer Epoche, die auf Nostalgie, Melancholie, Luxus und Kontrolle temperiert ist.

Im Wendekreis des Glücks

Kehren wir zu dem oben zitierten ersten Gedicht zurück. Dort heißt es inmitten einer Atmosphäre des Fatalen plötzlich: »Ich brauche dieses blasse / Licht im März, sage ich, ich brauche es«. Im Hinblick auf diese beiden Verse, denke ich, ist es nützlich über das Verhältnis von Sagen und Brauchen nachzudenken. Verschafft die Sagbarkeit des Bedürfnisses ihm eine fassbarere Wirklichkeit gegenüber der Nichtigkeit der Dinge, die zuvor im Gedicht beschworen wird? Was meint das überhaupt, dieses »Licht im März« zu »brauchen«? Nicht irgendein Licht, sondern »dieses blasse / Licht«. Es ist notwendig Odile Kennels Worte genau zu ermessen, denn rund hundert Seiten später heißt es dann: »ich aber gebe mich nicht / mit Häppchen zufrieden, will / das gesamte Junilicht, klammre mich / […] / [ich] zieh die Sonne / aus dem Schlamassel der Anzeichen / für ihr Verschwinden […]« (Kennel: Meteorologen sprechen vom Winter nicht vom Licht).

Was ist passiert? Was hat sich zwischen März und Juni ereignet? Wie konnte in der Spanne von nur knapp hundert Seiten Dichtung sich der verzweifelte Ruf nach mehr Licht wandeln zu einer selbstbewussten Defensio der Lichtquelle selbst? Ist die Hilferufende »auf einmal« zur Kustodin des Lichtes geworden?

Bei aller thematischer Heterogenität des Bandes lässt sich dennoch konstatieren, dass die Stimmung vom Anfang des Buches bis zu seinem Finale sich allmählich lichtet. Beispielsweise steht relativ früh das eher düstere Gedicht crochê im Regen. Es hat nicht nur eine atemberaubende Akustik; in Kennels Gedicht funkelt auch ein heller, intelligenter Charme. Ich zitiere nur den Anfang: »wann war da ein Kommet / der kometenhaft einschlug oder / unbeachtet an die Scheibe / prallte, alle dachten an Prasseln / an ein besonderes Ereignis«. Ein kosmisches Ereignis schlägt auf eine nächtliche Straßenbahnfahrerin ein, sodass sich der lyrischen Stimme plötzlich das gesamte Noir der Situation offenbart: »Ach, mit der Straßenbahn nachts / fahren, sage fahren, sage nicht / durch Regen, nicht Licht«.

Wie ist das Gedicht crochê im Regen gestrickt? Man beachte oben die klangliche Komposition: den Wechsel von gehäuften, offenen Vorderzungenvokalen (»wann war da«), die übergehen in einen Diphthong (ei), welcher auf einen sonoren Selbstlaut im Wort »Kommet« trifft und von dort den Duktus abdunkelt, bis er mit dem Vers »prallte, alle dachten an Prasseln« wieder bei offener Lautung mit schönen plosiven Konsonanten skandiert wird. Unterstützt wird diese lautliche Ausgestaltung auch durch rhetorische Elemente, die etwa durch Stammvariation aus »Kommet« »kometenhaft« machen. Man kann die Melismatik der Odile-Kennel-Gedichte nicht oft genug genau bestimmen, denn sie ist an vielen Stellen vollkommen.

Weitere Beispiele für diesen köstlichen Sound finden sich ausgerechnet in den Gedichten am Beginn, die doch so schwermütig sind. »aus Kellern quillt Kühle / unter Gerüsten hervor, üppiger / Landgang der Stadt, lässt uns / zurück mit weichen / Knien […]« (Kennel: Landgang der Stadt). Kennels Gedichte sind voll von Mikrokosmen der Euphonie. Hier etwa diese Pendel-Bewegung: die 1) zwischen harten velaren Konsonanten (k/q/k) die vom Schwa herkommend ins zentralvokalisierte u-i übergehen und mit geschlossenen, runden Ü (»Kühle«) ein Art Glissando erzeugt, um dann sich mit 2) dem verhältnismäßigen sanften, hüpfenden »Gerüsten« oder »hervor, üppiger« oder »Landgang« oder dem zischenden »lässt uns« mehr Schwung zu holen, um dann auszupendeln in 3) dem harten »zurück« und den »Knien«, zu denen die Zunge über die vibrierende Schanze des Wortes »weichen« springt.

Diese Musik ist dennoch so diskret, dass sie uns nicht ablenkt, denn in diesem Gedicht dominiert ein Gestus der Verwandlung des alltäglichen Sprachgebrauchs: »treibt mir die Träume / in die Augen, zerbricht / mir das Herz in der Lunge«. Immerfort oszilliert die Stimmung zwischen die Hoffnung der Träume und den Tränen, die man doch im Subtext mitliest und in den Augen erkennt. Und Odile Kennel modifiziert die Alltagssprache weiter: »vor Glück, so sehr grünt / die Stadt aus den Nähten / will südliche sein« oder »nichts für ungut / uns würde ganz grün / hinter den Ohren«.

Obwohl Kennel so freundlich ist, dem Leser einen Anhang verwendeter und abgewandelter Zitate von Rolf Dieter Brinkmann, Arno Calleja, Ulrike Draesner, Jacques Brel, der Berliner Tageszeitung, Oliver Cadiot oder Wisława Szymborska beizugeben, so generieren Kennels Gedichte ihre Wirkung schon aus sich selbst, aus dem Material der deutenden Sprache allein. Es ist wirklich so.

Man beachte etwa das Gedicht Salbei denken. Es spielt mit Variationen der Denkbarkeit des Sinnlichen, des »Dufts«. Kennel zieht uns hinein in ein paradoxales Spiel: »ich denke Salbei, wenn ich Salbei / sehe, denke grüngraue, samtene Blätter / paarweise gegenständig […]«. Die Denkbarkeit des Gefühlten, die »samtenen Blätter«, die eigentlich die Sinnlichkeit wecken, nicht den Kopf ansprechen sollten – aber wir lieben den Widerspruch, der sich uns zwischen »denken« und »sehen«, dem Empfinden und dem Verbalisieren, zwischen Erkennen und Erschauen torkeln lässt.

Und dann noch dieses »paarweise gegenständig« – als inkurable Adepten der Romantik ahnen wir die drohende Katastrophe des Salbei-Gedichts, die sich dann spätestens in der parallel gebauten zweiten Strophe konkretisiert: »ich denke du, wenn ich nicht / Salbei denke, nicht denke / […] ich denke du, während der bittere / und würzige Duft in deine und meine / Existenz dringt«. Plötzlich ist der Salbei modifiziert zu einer komplexen Metapher für die Echtheit und Wirklichkeit und Unhintergehbarkeit des Lebens selbst – hier insbesondere des Liebeslebens: »und so entsteht ein existenzielles / Ungleichgewicht im Nachmittagslicht«. Wir fahren, könnte man wohl sagen, auf der Achterbahn des Glücks gerade aus dem Loop heraus einen weiteren Hang hinab.

Stadt, Land, Überdruss

Das Gedicht Salbei denken schließt mit dem Wort »vielleicht«. Eine ähnliche Stimmung findet sich wenige Seiten weiter in die Flüchtigkeit des Steins. Wir befinden uns nun auf dem topographischen Terrain der klassischen Moderne und ihrer Obsession mit dem, was die Kulturwissenschaften der späten 1990er-Jahre wohl »urbanen Raum« in ihrer Rezeption von z.B. Flaubert, Joyce, Belyj oder Hart Crane nannten. Der Topos der Stadt, flankiert mit so viel Weltschmerz und Ennui wie man nur ertragen kann. In Kennels Gedicht heißt es dann: »halten wir fest     im Mai nullsechs ist Berlin eine nicht / fest verankerte Anordnung von Ungewissheiten   terrains vagues«. Kennel beklagt nun die Festschreibung der Stadt, kritisiert gleichsam die semantische Asphaltierung des urbanen Raums mit jeglichem Narrativ, den man dafür urbar machen konnte: »[…] Leerzeichen im Schriftsatz der Zeit / auf der Karte verzeichnete Orte   deren Aufenthalt / nicht gesichert ist   vielleicht«. Es folgt eine Meditation über die Tatsache, dass täglich neue Menschen in die Stadt angeschwemmt werden und nun »verbergen die eben Gestrandeten alles Beständige«. Die Stadt ist ohne ihre Natives, das alte Patriziat ist fort; die Stadt besteht in Odile Kennels Vision aus »Neuankömmlinge / von überall her, so wie ich einmal hierher kam«.

Ein einziger Schwachpunkt dieses ansonsten herrlichen Gedichtbandes besteht allerdings in seiner exzessiven Anrufung »der Stadt«. Man bekommt irgendwie das Gefühl, die Mandarins lebten in den Metropolen und auf dem Land seien bloß Kretins zu Hause, wenn man verträumte Verse wie diese liest: »später fegt die Stadt schläfrige Flusen« oder »und atmen die Stadt ein, wir horchen« oder »im Sommer, lieben wir die Stadt, die groß« oder »geliebt von der Stadt, die bedächtig« oder »abends in der Stadt. Und hier / fuhr ein Auto zu schnell«. Was an diesen anthropomorphisierenden Gesten stört, darin die Stadt vermutlich das ersetzt, was in der Erbauungsliteratur des 19. Jahrhunderts wohl »oh, du mein Gott« war, … was stört, ist die groteske Wehmut dieser Anrufungen, die provinzielle Hommage an »das Urbane«. Das sensible Mädchen, das sich in die große Stadt verlaufen hat, und nun von Gaunern und dekadenten Gestalten umstellt wird. Oder: Pinocchio, der mit anderen Kindern nach Pleasure Island kommt und dort beim Zigarrenrauchen und Billardspielen droht verdorben zu werden. Aber Odile Kennel wird uns auch die Mittel der Tröstung reichen. Es ist nicht so schlimm.

Kennels Gedichte schießen sich hier nur an eine Tendenz der gegenwärtigen Dichtung an; in Wirklichkeit ist aber Kennels Blick weit und schön. Ihre Gedichte reflektieren das Spannungsverhältnis der zugezogenen Stadtbewohner zu ihrer Herkunft. Ein eindrucksvolles Beispiel für diese Reflexion findet sich im Gedicht WeinresümeeWienrésumé: Hier ordnet die Dichterin dem urbanen und pastoralen Leben verschiedene Sprachkulturen zu, die aber über den unterschiedlichen Wortgebrauch auch einen unterschiedlichen Kosmos eröffnen. Der Abschnitt beginnt mit dem Vers »Was aber Stadt ausmacht – « und geht dann über in eine Liste: »Worte wie Krone Vogelkehle / Teller Tauben Mauersegler / Küchenfenster Büsche / Schüsselantenne Pappel / Gasse etc. – hat etwas / Ländliches […]«; kurz darauf folgt eine weitere Liste: »Wolfsmilch / Päonie Bühel Änderungsschneiderei […] neongrüne Gleisarbeiter«.

Demgegenüber beschäftigt sich eine weitere Gruppe an Gedichten mit der Lebenswelt Provinz, in diesem Fall den »Schwarzwald«. Wir erleben hier die literarische Figur des Ausbruchs, auch die der Emanzipation: »als hätte ich dort / ein Stück Zeit verloren, nein: / vergessen. Wollen: das war nicht ich« (Kennel: von nicht zu bestimmender Beschaffenheit). Die Selbststilisierung des Subjekts als ein unpassendes Stück in einer ansonsten gefügten Welt. Und dann: »ich wollte weg / ich war traurig / ich war von nicht zu bestimmender / Beschaffenheit«. Es zeichnet sich ein Drama ab, eines der unzähligen Schauspiele von der Suche des Selbst: »Schattenriss meiner selbst, Splitter / von Gegenlicht im rastlosen / Himmel. Es stimmt«. Odile Kennels Gedichte sind nicht nur wegen ihrer suggestiven Zeilensprünge schön, wegen ihrer feinen Balance zwischen Aussage und Bild reizend, aber auch wegen dem ungestümen Subjekt, das sich in seinem expressiven Wurf hin und her wälzt und dabei ganz bloß, vollständig in seinem Ausdruck veräußert.

Diese einsame Atmosphäre, die Odile Kennel dem ländlichen Leben zuordnet, findet sich hineingepresst, gnadenlos und doch unendlich sanft in Gedichte wie z.B. abends: die Dörfer (»Es ist still um die Dörfer, abends: / Der Nebel steigt zwischen den / Katzen auf, und der Kuckuck kuckuut«).

Fifty Shades of Angst

Gleichwohl hätte man sich getäuscht, wenn man »oder wie heißt diese interplanetare Luft« auf diese Themen verkürzt hätte. Manche der schönsten Gedichte lassen sich als Memento mori lesen: »dies ist ein letzter / Aufenthalt, ein Gedanke / ein Warten, ein Stauden- / garten zum Sterben / schön, ein Klaffen / ein Kläffen dort draußen« (Kennel: letzter Aufenthalt). Im Fortgang des Gedichts kontrastiert Kennel das kläffende »draußen« mit dem »drinnen« des Körpers, seiner letzten Behausung vor seinem Heimgang. Ihre Gedichte beziehen mit diesem Fokus auch ethische Aspekte mit ein – etwa die Frage nach dem angemessenen Verhalten am Lebensende: »[…] vieles / wird fraglich, das Leiden / das Leidtun, und wie weit / wir noch reichen / wie weit reichend / Tontechnik unser Leben / verlängert, wie wir den Ton« (Kennel: nach dem Piepton).

Andere Gedichte greifen den Spleen auf, welcher der abendländischen Existenz seit den letzten 100 Jahren aufgegeben ist. Sitzen zwei im Café »betreiben glückliche Quellenpflege / […] mit der Eigenschaft / Mangelerscheinungen beheben / zu können«. Geht es hier um die Gespräche, in denen man die Welt rettet oder geht es um gar nichts oder ist es nur ein Zeitvertreib: »und unsere Versuche / gescheiterten Probeklingelns oder / über unser Verhältnis zu einer / rechtsperipheren Sprache mit / Linksverzweigung«? Über die Welt nachdenken beim Latte Macchiato nach dem Yoga oder einem Ikebana-Seminar und plötzlich wird die lyrische Stimme sich dieser Absurdität gewahr: »aber was ist das / für ein Lotterleben, Hallodris / allesamt, wir schaufeln und schaufeln / Sprachschneisen in uns hinein«.

Und trotz des weiten Wendekreises ihres Gedichtbandes beschließt Odile Kennel das Buch mit einer vorzüglichen Ode auf Quisquilien, darin doch das Wesentliche hervorscheint, ein harterkämpftes Ruhen in sich selbst. Von den angstmachenden Dingen will sie nichts wissen, gehäutet hat sie sich, denkt man, nichts will sie wissen vom »Körper als verwertbare / Figur« oder »keine / Beobachtung gesellschaftlicher / Trends an Seeufern«; stattdessen »will / Quisquilien, will Glück: tropfende«. Und es ist tatsächlich so, dass man in diesem Gedichtband zahlreiche Tröpfchen des Glücks kosten wird!

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Odile Kennel
deutsch
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2013
120 S.
€ 14,90 (Broschur)

 

 

Diese Rezensionen werden Ihnen von Paul-Henri Campbell präsentiert. Campbell ist 1982 in Boston (USA) geboren und schreibt Lyrik sowie Prosa in englischer und deutscher Sprache. Gedichtbände: »duktus operandi« (2010), »Space Race. Gedichte:Poems« (2012). Er ist ebenfalls Übersetzer und Mitherausgeber der internationalen Ausgabe der Lyrikzeitschrift DAS GEDICHT (»DAS GEDICHT chapbook. German Poetry Now«). Soeben erschienen ist »Am Ende der Zeilen. Gedichte | At the End of Days. Gedicht:Poetry«.

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