Das Lyrikprojekt zur Lutherdekade im Themenjahr 2015
in Kooperation mit Anton G. Leitner | DAS GEDICHT
Jessica Sniezyk
An Zeit zu Denken*
An Zeit zu denken
heißt Metaphern in Raum
zu werfen
heißt Momente
linear zu denken
oder neuerdings
im Kreis zu denken
dem Zeiger entlang.
Heißt Uhren zerfließen
zu lassen
In Zeituhrentreibsand
zu landen.
Oder am längsten und kürzesten
zu rütteln
und Sommer und Winter
verrücken.
An Zeit zu denken heißt
nur selten
um
zu denken.
Zu denken wir könnten das Leben in Abschnitte zerteilen und einzeln angreifen.
Zu denken dass nicht die Sonne im Osten aufgeht sondern wir uns westwärts drehen.
Zu denken dass manche von uns nur 15 Minuten haben und andere ein ganzes Leben.
Zu denken dass sich die Geschichte nie wiederholt, sondern jedes Unglück einen Anfang bildet.
An Zeit zu denken heißt
nur selten
neu
zu denken.
Zu denken ich könnte jeden Montag ein Sonntagsleben führen.
Zu denken dass eine ganze Zivilisation nur bis 2012 gedacht hat.
Zu denken ich könnte dir an jedem Morgen einen guten neuen Wünschen.
Zu denken ich könnte dieses Papier nehmen und es an die nächste Tür schlagen.
Zu denken
ich könnte
dieses Papier nehmen
und es tock-tock
an die Tür schlagen
und es ruck-zuck
anschlagen.
Zu denken ich könnte
nachahmen.
Zu denken ich könnte
das ›A‹ ansagen.
Zu denken
ich könnte die neue
Zeit
an
schlagen.
Zu denken
jeder von uns
könnte die Zeit
neu
um
An-
denken.
*1855 veröffentlichte Walt Whitman in seinem revolutionären Buch Leaves of Grass ein Gedicht, das heute unter dem Titel »To Think of Time« bekannt ist, und auch nach 160 Jahren Studierende und Schreibende daran erinnert an Zeit zu denken.
© Jessica Sniezyk, geboren 1986 in Dortmund, lebt dort.