Die begleitende Netz-Anthologie zu DAS GEDICHT 25,
zusammengestellt und ediert von Anton G. Leitner und José F. A. Oliver
Semier Insayif
feder und flügel
qalam wa dschanāħ
قَلَم وجَناح
tinte – ħibr -حِبر
wischt sich schwarz ins blatt
die reise – as-safar – ألسَفَر
haftet an den fasern
deiner sogenannten seele
in ihren fugen fließen flüsse
ufer schilf und sonnen
أنهار ضِفاف قَصَب و شُموس
anhār đifāf qaşab wa schumūs
abgezeichnet träumt sie
außerhalb von plätzen
fern von orten deiner wahl
nicht in kirchen
ما فى ألكَنائس
ma fi-l-kanāis
nicht in tempeln
ما فى ألمَعابِد
ma fi-l-ma´ābid
unbestimmt und fremd geblieben
unterwegs im schatten alter mauern
unter birken pappeln buchen
unter dattelpalmen balamuteichen und ölbäumen
تَحْتَ أشْجَار ألبَلّوط و ألزَيتون و ألنَخْل
taħta aschdschār al-ballūt wa az-zaītūn wa al-nachl
nicht in synagogen
ما فى ألكَنائس أليَهودية
ma fi-l-kanāis al-jahūdīa
nicht in moscheen
ما فى ألمَساجِد
ma fi-l-masādschid
ihre spur bricht
ab und auf im geist
dich wieder zu erfinden
deine zelte abzureißen
zurück bleibt nur der leere platz
und die erinnerung
و ألذِكرى
wa al-dhikra
im gesicht verzeichnet
taucht papierbehangen
dieses eine wort auf
هَذِهِ ألكَلِمة ألوَحِدة
hadhihi al-kalima al-wahida
kratzt sich ins getriebe deines denkens
eingefangen in der flachen hand
أليَد ألمَبسوطة
al-jad al-mabsūta
legt musterhaft sich eilig trocken
weiß transparent sich auf dem stimmband
وَتَر صَوتي
uatar şaūti
ruft dich auf geladen mit der spitze
seiner zeile gegen sich gewendet
schwingt sein lippenloses maul
dir ans eingekochte herz
يَا قَلبِى
ya qalbi
schluckt mund
gerecht und unsichtbar
durchs ohrgeflecht den stillen raum
سُكون
sukūn
sucht abgeklärt die macht in dir zu greifen
die übernahme rechnet bis zum ende
إلى ألنِهاية
ila al-nihāja
fängt sich so
am anfang hebend auf
فى ألبِداية
fi-l-bidāja
geschlossen weit und kahl und
offen – maftuħ – مَفتوح
bleibt die frage stehen
wessen sehnsucht
شَوق مَن
schaūq man
reist in versen hinterher
wer hat sie eingespeist in dich
und wie und wo und was
gilt es spielend zu entdecken
auf deinen monitoren
monolitisch spiegeln sich
displays bleichgesichtig wider
ungebrochen glaubt dein kind
im kern beharrlich
فى ألنَواة
fi-l-naūāt
und trotzt besessen jedem zweifel
denn die antwort
ألجَواب
al-dschaūāb
wär sein ende
und die frage ist die antwort
und die antwort ist die frage
wer zieht jenen stecker
auf dem weg zur reise?
أي تَريق ؟
ai tarīq?
wenn nicht nur am blatt papier
das wort seele seiner tinte fliehend
leicht entrinnt
ألكَلِمة هِى الرُّوحْ
al-kalima hia ar-rruh
dann wird die federspitze flügelhaft
zum abdruck ihrer selbst
© Semier Insayif, geboren 1965, lebt in Wien.
»DAS GEDICHT 25: Religion im Gedicht«,
herausgegeben von Anton G. Leitner und José F. A. Oliver