Die begleitende Netz-Anthologie zu DAS GEDICHT 25,
zusammengestellt und ediert von Anton G. Leitner und José F. A. Oliver
Maren Schönfeld
Stade reloaded
I.
Stade, Niederelbe,
auf halber Strecke zwischen
Hamburg und Cuxhaven,
da wurde ich groß,
in der Tasche die Faust
mit dem Schweizer Taschenmesser,
original mit weißem Kreuz:
großväterliches Geschenk
zum Schneisenschlagen durch
Stadtwiesendschungel,
in denen wir lauerten
unentdeckt
im Läuten der Kirchturmglocken:
einmal zur Viertelstunde,
zweimal zur halben,
dreimal zur Dreiviertelstunde,
viermal zur Stunde
um Stunde unser Kriegsgeheul
in den Gräben hinter
dem „Goldenen Löwen“,
da gab’s noch Tanz: Kökschengriepen,
aber nicht für Kinder.
Heute die Siedlung:
handtuchgroße Rasen
ohne Schneisen
vom Schiffeschnitzen
In Stadersand schaukelten
Baumrindenjollen
mit Papiersegeln
elbaufwärts; bald jedoch
verengten Zaunstreben
meterweise
das Geviert. Jetzt
Industrieland und
Rotschlammdeponie,
Rotes Kreuz statt
Ausflugslokal.
Ein metallenes Tor
verbarrikadiert den Anleger
ohne Fährverkehr.
II.
Abends mit Mutter
ins Alte Land, nach Lühe
wo die Elbdampfer den Fluss
nach Schulau kreuzten,
Wiener Würstchen mit Brot,
Dieselgeruch,
Motorengeräusch,
eine steife Brise:
Stade, Niederelbe,
so wurde ich groß,
in der Tasche
das Schweizer Messer,
ein Haufen Steine,
Kastanien, eine Schraube,
die ausgebeulten Anoraktaschen
immer sandig und manchmal
verschwanden wir Kinder einfach
irgendwo in den Wiesen.
© Maren Schönfeld
»DAS GEDICHT 25: Religion im Gedicht«,
herausgegeben von Anton G. Leitner und José F. A. Oliver