Sinnliche Lyrik, Folge 12: Mondbeeren pflücken – ein Gedicht von Evelyn Bubich

Die Reihe »Sinnliche Lyrik« vereint zeitgenössische Gedichte, die mit einem sinnlichen Sprachgebrauch spielen, die in ihrer Körperlichkeit klingen und wirken. Jeden zweiten Monat, jeweils am 25., stellt Sophia Lunra Schnack eine weitere Kostprobe vor – und mit ihr einen neuen Dichter oder eine neue Dichterin.


Evelyn Bubich


ich kann meine Füße nicht spüren
ich kann meine Füße nicht neben deinen. Nicht mehr
du heftest deine Ängste an unser Haus

ich kann meine Füße nicht spüren
ich kann mich legen und mich fortlegen im Außeratem
ich hefte meine Fluchten an den Rand deines Morgens. Der uns ausatmet
und der Himmel fleckt im Unterholz
Und der uns ausatmet

ich kann meine Zehen nicht mehr an deine Füße
wir trinken Kaffee und du erzählst
von den Ribiseln in unserem Garten

perliges Sauersüß. Ich zünde dir deine Zigarette an und lass
das Streichholz weiterbrennen
Und du erzählst vom Wald
wohin du heute noch gehen willst und die Mondbeeren pflücken

wo blühen die Mondbeeren, frag ich und seh aus dabei
als würde ich das erste Wort sprechen. Seit Langem

ich kann meine Füße nicht spüren. Und meine Spuren führen
in den Wald und meine Füße heften sich am Boden unserer Veranda fest

und ich kann meine Füße nicht spüren und du fragst nach
noch einer Tasse Kaffee
und ich versuche. Aufzustehen. Für deinen Schluck Schwarz Pulver

und dieses Morgenlichtbedenken, wenn deine Sorgen sich
mit meinen verschränken und wir uns in unserem Haus
was jetzt?
nur noch in zwei Wänden fühlen

mehr nach draußen streben so nach draußen so hinaus ich kann
meine so nach
oben ich kann nicht

so bleib doch da
und trinken wir noch eine Tasse Kaffee

unter Vorbehalt zieht die Sonne weiter
und ich stell dir ein schwarzes Fenster auf den Tisch

außerhalb deines Morgenlichtbedenkens
unter Vorbehalt zieht die Sonne
außerhalb deines Morgenlichtverschränkens


* * *


gestern lag ein Reh am Wegrand
ich kann meine Füße nicht spüren
hörst du, sag ich
ich kann nicht mehr aufstehen
du musst in den Wald hinaus und mir die Mondbeeren pflücken, sag ich
und nehme einen Schluck Pulver
schwarz aus deiner Tasse

und das Reh
es blickt mich an
und das Glas graut
schon in seinen Augen
und durch das Trüb
blickt es mich nicht mehr an


greif es nur nicht an, sagst du


es hat uns verlassen


© am Gedicht: Evelyn Bubich, Wien (Österreich)

Zur Autorin:
Evelyn Bubich, geb. 1988 in Klagenfurt, lebt in Wien und ist Autorin von Prosa und Lyrik, Lektorin, Rezensentin sowie Literaturvermittlerin. Sie hat vergleichende Literaturwissenschaft, Digital Media Publishing und Kommunikationsmanagement studiert. Zahlreiche Veröffentlichungen in Anthologien, Literaturzeitschriften, Tageszeitungen, Magazinen (u. a. in Lichtungen, Podium, Standard), Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift Podium. Sie kuratiert zurzeit u. a. das künstlerische Programm von literatur famulus sowie die Lesereihen Literatur im Fenster & Geschichtenkiste.

textzeit.at


Sophia Lunra Schnack (Foto: Walter Pobaschnig)

Zur Herausgeberin:
Sophia Lunra Schnack ist selbst Lyrikerin und zudem Prosaautorin, sie schreibt auf Deutsch und Französisch. Geboren wurde sie 1990 in Wien, wo sie derzeit auch lebt. Studium der Französischen, Italienischen und Deutschen Philologie in Wien, Mulhouse und Bologna. Bisher Veröffentlichungen u. a. in manuskripte, Poesiegalerie, Das Gedicht und Signaturen. Dazu erhielt Schnack 2022 den Rotahorn-Förderpreis.

Ihr Debütroman »feuchtes holz« ist 2023 erschienen, ihr erste Kurzprosasammlung folgte in diesem Jahr mit »Worte wie Mandelblüte« (beide bei Otto Müller). Derzeit arbeitet sie am zweisprachigen Lyrikzyklus »wimpern piniengrün – cils vert de pins«.

www.SophiaLunraSchnack.com



Alle bereits erschienenen Folgen von »Sinnliche Lyrik« finden Sie hier.



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