Eingestreute Kritik von Wolfram Malte Fues zum lyrischen Prosaband »Magie des Alltäglichen – Fragmente aus der japanischen Fremde« von Ulrich Johannes Beil
Fragmente? Gut 200 Seiten Fragmente? Wie geht das zusammen? Wie ordnet sich das? Müssen sich so viele Textklippen nicht zwischen zwei Buchdeckeln stauen, ihre Bedeutungen gegeneinanderstoßen und aneinander zersplittern, so dass ein zerklüftetes Eismeer als Sinnganzes entsteht? Oder hat die »japanische Fremde« einen anderen Vorschlag? »Keine japanische Speise hat ein Zentrum – mit den ›Untergebenen‹ der Vor- und Nachspeise wie bei uns, keine Dramaturgie und keine Teleologie, die ja auch das japanische Geschichtsdenken nicht kennt. Sondern alles wird gleichzeitig auf dem Tisch präsentiert […]. Keinem Gericht wird der […] Vorrang gegeben.» So heißt es auf Seite 16 in Beils neuem Band.
Alle Fragmente sind gleichwertig, die Lesereihenfolge darf variieren
Stellen wir uns also Beils Buch als einen mit Fragmenten gedeckten japanischen Tisch vor. Keinem Fragment wird der Vorrang gegeben, keines stellt sich als sinnleitendes Zentrum des Ganzen vor. Jedes fungiert als gleich gültiges Moment seiner Peripherie, deren Perspektive es jedoch von seinem Ort her bestimmt. Jedes erzeugt von seinem Blickpunkt her eine andere. Man kann dieses Buch von Anfang bis Ende durchlesen, wie wir es gewohnt sind. Man könnte aber auch mit irgendeinem Fragment irgendwo anfangen, eine Weile vorwärts, eine Weile rückwärts lesen und sich so einen sinngebenden Blick verschaffen, abbrechen, neu einsetzen und so das Spiel von Neuem beginnen. Vielleicht wäre diese Lesart der »japanischen Fremde« sogar angemessener. Worauf aber beruht die Fremdartigkeit dieser Fremde? Beil zufolge auf dem »japanischen System der allgegenwärtigen Unklarheiten« (S. 126). Und wie kommt dieses System zustande?
Zwischen zwei Momenten, die das Gleiche, aber nicht das Selbe sind
Im Odo-Park, von den Zen-Steinen zu dem rekonstruierten Rest der Natursteinmauer, die im späten 13. Jahrhundert half, die Invasion Kublai Khans in Japan zu verhindern: »So berührt und mischt sich die Insel-Symbolik der Zen-Steine mit den realen Steinen, die die Insel Japan damals vor dem Untergang bewahrten. Der Weg vom Park zu den Ausgrabungen wäre so der Weg von der Metapher zur Metonymie – von Steinen, die die Insel bedeuten, zu Steinen, die die Insel sind …«, formuliert Beil (S. 91). Von Steinen zu Steinen. Ein Verbindungs-Weg zwischen zwei Momenten, die das Gleiche, aber nicht das Selbe sind. Ein Weg, dem der Rückweg bereits eingeschrieben, hin und zurück eine identische Bewegung ist. Das Metaphorische erweist sich als metonymisch, das Metonymische als metaphorisch. »Ding für Ding« und »ein Ding für ein anderes« ergänzen einander nicht zu lebensweltlicher Ordnung, wie wir es gewohnt sind, sondern überlagern und hintergehen, berufen und verleugnen einander.
Ob die Japaner*innen die Kirschblüte deshalb so verehren, weil sie »sich nur ein paar Tage in dieser schneeweiß-rötlichen, jungfräulichen, duftigen Pracht zeigt […] und kaum hingesehen schon wieder verschwindet. Etwas, das hier vielleicht gerade deshalb so vergöttert wird, weil es kaum greifbar, kaum fassbar, derart der Zeit unterworfen ist, dass man es nicht festhalten kann« (S. 22). Etwas, das die sich einigende wie sich lösende Zwienatur der Welt in reiner Form symbolisiert. In ihr mag seinen Grund haben, was Beil die »Magie des Alltäglichen« nennt.
Zarte, schwebende und zugleich hochkonzentrierte Aufmerksamkeit
Wie soll man nun diese so schwierig zu fassende japanische Fremde beschreiben? Wie über sie schreiben? Unter Japankennern heiße es, merkt Beil dazu an, »man schreibe nach drei Wochen im Land ein Buch, nach drei Monaten einen Aufsatz. Nach drei Jahren aber bleibe man stumm« (S. 41). Beils erste Aufzeichnung stammt vom 13. November 2020, seine letzte vom 16.Oktober 2023. Wie gelingt es dem Verfasser der »Fragmente aus der japanischen Fremde« dem Verstummen zu entkommen? Sein Buch stellt keine Überlegungen zu seinem eigentümlichen Denk- und Schreibstil an, gibt aber einen gut versteckten aufschlussreichen Hinweis: Auf dem Flug von Taipeh nach Fukuoka beobachtet der Verfasser einen älteren Japaner. »Auf seinem schmalen Sitzplatz, Economy Class, der kaum Bewegungen erlaubt, versucht dieser Passagier etwas zu praktizieren, das hier eigentlich nicht praktiziert werden kann: Tai-Chi. […] Dieser Passagier zitiert es gleichsam nur […], begnügt sich mit einem Fast-Nichts. Er deutet es lediglich an […]. Mit zarten, schwebenden und zugleich hochkonzentrierten Bewegungen« (S. 186). Mit einer analogen Schreib-Bewegung sucht Beil die »Magie des Alltäglichen«, der sein Buch gilt, zu erfassen und zu vergegenwärtigen: die Magie jener metonymisch-metaphorischen Symbolik, die zarte, schwebende und zugleich hochkonzentrierte Aufmerksamkeit verlangt.
Produktive Entfremdung
Beils Buch zeugt von großer Achtung vor der japanischen Kunst und Kultur; es unternimmt keinen »Spaziergang in Japan« wie der sehr erfolgreiche Reisebericht Bernhard Kellermanns vom Anfang des vergangenen Jahrhunderts. Leider verführt diese Wertschätzung des Fremden Beil (zu) oft zu einer Geringschätzung des Eigenen, einer überflüssigen Demutsgeste, unnötig irritierend für alle Leser*innen, die sich an der europäischen Moderne kritisch orientieren. Hinter dieser Geste verbirgt sich jedoch ein Wunsch: »… länger zu bleiben, Monate, Jahre, und zusehends auf seine Erfahrungen zu hören – heißt das nicht zugleich, auf den tiefsitzenden Wunsch, das Fremdartige zu verstehen, zu verzichten, den mitgebrachten Logiken zu misstrauen?« (S. 41)
Dieses Misstrauen ruft eine essenzielle Kategorie modern europäischen Denkens auf: den Zweifel. Dubium Initium Sapientia ließ Friedrich II. in das Meißner Porzellanservice gravieren, das er dem Marquis d’Argens zum Geschenk machte. So führt auch die Erfahrung, die man als Leser*in mit Beils Buch macht, über die Fremde in die produktive Entfremdung vom Eigentümlichen und damit ins Eigene zurück. »Der wahre Weg des Geistes ist die Vermittlung, der Umweg.« Das schrieb einst Hegel, und von Beil wird es wunderbar bestätigt.
Ulrich Johannes Beil
Magie des Alltäglichen
Fragmente aus der japanischen Fremde
204 Seiten, 22 s/w-Abbildungen
Iudicium 10/2024
ISBN 978-3-86205-661-3