Dichterbriefe – Folge 1: »Ich bin ein Wanderer« – Christophe Fricker schreibt Harry Oberländer

Christophe Fricker schreibt jeweils am 1. des Monats einem Dichterfreund, dessen Buch er gerade gelesen hat. Die Texte sind eine Mischung aus Offenem Brief zu Lyrik und Gesellschaft, bewusst parteiischer Rezension und vertrautem Austausch. Und damit hoffentlich auch weniger langweilig als Rezensionen, die ihre eigene Voreingenommenheit vertuschen.

 

Lieber Harry,

»Ich bin ein Wanderer« mag über einem Teil der unermesslichen Welt der Dichtung als Leitwort stehen, auf Deutsch und als Ausdruck jener so deutschen Mischung aus Selbstbewusstsein, Redefreude, Abschiedsschmerz und Aufbruchsstimmung, die das Rimbaud’sche Urwort der Moderne, »Ich bin ein Anderer«, in die äußere, wirkliche Welt zurückwendet – in jene Welt, aus deren Kleinstadtvorrat Du uns einen Ausschnitt vorführst, den Du erwandert und bedichtet hast: Český Krumlov, Krumau in Tschechien, wo Du hinzogst und einzogst und durchaus ankamst, ohne aber je lange bleiben zu wollen. Diesem Ort ist Dein Buch chronos krumlov gewidmet, das ich gerade gelesen habe.

Der Unterwegsdichter Wulf Kirsten hat das Vorwort geschrieben. Ich fragte ihn mal, ob ein Dorf, von dem er gerade erzählte, weit von seinem Wohnort Weimar entfernt sei. Ja, sagte er, doch seine Frau widersprach. Doch, sagte er, es ist weit – »für einen Spaziergänger ist es weit.« Wulf Kirsten ist ein Spaziergänger, und wer weit spaziert, wird Wanderer, wie Du. »Auf, auf nach Český Krumlov!«, ruft Wulf Kirsten den Lesern zu, und ich zumindest folge ihm gern und wandere in Dein Buch.

Es zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht, so schön ist es: weißer Umschlag, angenehmes Papier, klassisch elegant, aber nicht altmodisch gesetzt, mit zwei dreiseitigen und einer zweiseitigen Fotografie auf seinen Bestimmungsort hin geöffnet. Du schreibst, Stifter schilderte Krumau, Schiele schuf hier Aktbilder, es sei »ein guter Ort, eine Burg zu bauen«, das zitierst du. Damit bin ich dem effizienten Laptop-Alltag schon recht weit entkommen.

Wo bin ich nun? »unter den balken« sitze ich mit Deinen anderen Lesern und schaue auf die Stadt. Schon mit drei Worten wird ein Aufenthalt möglich. Was sehe ich? »ein kindergesicht. in der dämmerung«, in der sehr viel Zeit vergeht: Das Kindergesicht »alterte mit dem abend schwand es«. Apokoinou nennt man diese Sageweise: Es alterte mit dem Abend, mit dem Abend schwand es, dies beides in einem. So wird die Zeit erlebbar, ich gehe mit Dir durch die Zeit des Kindes und die Zeit des Ortes. Du machst sie ein Wortlang erlebbar.

Du erzählst aus Krumlovs Gedächtnis. Von der erleichtert unsicheren Stimmung nach einem Gewitter, wenn »der morgenwind einen leichten rausch« feiert. Von der Ballonfahrt, bei der eine junge Dame zu bluten beginnt – »das weib / erträgt den himmel nicht!« Von Julius d’Austria und anderen illustren Bewohnern. Du staunst und zweifelst: »mag sein«, sagst Du am Ende einer Strophe; und Du fabulierst, lässt immer wieder halbe Reime zu, übersetzt den Untertitel eines barocken Gedichtbandes aus einer Geheimsprache in eine Scherzsprache, kein weiter Weg. Und den dunklen Zeiten – langen, wenigen Jahren – näherst Du Dich ernst: »ein grab in den lüften, / da liegt man nicht eng«, zitierst Du, und Dein Zitieren gibt uns Lesern zu verstehen: Besser kann man es nicht sagen. Und dann widmest Du wieder Paul Celan ein verschmitztes Gedicht, über das er sich wohl nicht gefreut hätte.

Das ist das Panorama: vom Symbol bis zur Sottise. »der ast war schwarz das licht war blühend«, beginnt ein intensives Egon-Schiele-Gedicht, und in Deinem Adolf-Hitler-Gedicht trifft den Diktator gleich am Anfang ein mädchenmassenhaft geworfener Blumenstrauß, und »an der nase / verunstaltet ward seine führervisage«.

Aber ich schweife ab, schweife mich ein in dieses Buch … Ein Wanderbuch also, Dein chronos krumlov? Ein Buch, das mir zeigt, dass eine kleine Stadt ein Erlebnis ist. Selbstverschmerzt und abschiedsbewusst das Dorf, in stimmiger Rede freudig aufgebrochen Du. Danke, dass ich mitgehen durfte, und

Grüße von Christophe!
 

Harry Oberländer: chronos krumlovHarry Oberländer
chronos krumlov

Gedichte. Mit einem Nachwort von Wulf Kirsten
edition faust, Frankfurt a. M. 2015
Gebunden mit Schutzumschlag, 72 S.
€ 18,– (D)

»chronos krumlov« bei Calle Arco kaufen


Christophe Fricker. Foto: © Chiara Dazi
Christophe Fricker.
Foto: © Chiara Dazi

Christophe Fricker, geb. 1978, schreibt über die Möglichkeiten von Freundschaft, die Grenzen des Wissens und die Unwägbarkeiten der Mobilität. Mit Tom Nolan und Timothy J. Senior veröffentlichte er den zweisprachigen, illustrierten Gedichtband »Meet Your Party«. 2015 gab er die »Gespräche über Schmerz, Tod und Verzweiflung« zwischen Ernst Jünger und André Müller heraus, die das Deutschlandradio eine »Sensation« nannte. Frickers Buch »Stefan George: Gedichte für Dich«, eine Einführung in das Werk Georges, stand auf Platz 2 auf der NDR/SZ-Sachbuchbestenliste. Für den Gedichtband »Das schöne Auge des Betrachters« wurde er mit dem Hermann Hesse Förderpreis ausgezeichnet.

Alle bereits erschienenen Folgen von »Dichterbriefe« finden Sie hier.

3 Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert