Dichterbriefe – Folge 2: Baden-Württemberg verschmitzt – Christophe Fricker schreibt Jürgen Egyptien

Christophe Fricker schreibt jeweils am 1. des Monats einem Dichterfreund, dessen Buch er gerade gelesen hat. Die Texte sind eine Mischung aus Offenem Brief zu Lyrik und Gesellschaft, bewusst parteiischer Rezension und vertrautem Austausch. Und damit hoffentlich auch weniger langweilig als Rezensionen, die ihre eigene Voreingenommenheit vertuschen.

 

Lieber Jürgen,

der Götterschatz der Gegenwartssprache ist größer geworden durch einen Gedichtanfang: »Wo junge Türken arglos balgen«. Wunderbar! Deine Zeile ist so haarsträubend, dass der Maßstab der politischen Korrektheit sich kichernd abwendet. Und sie ist an eine so ungewöhnliche Perspektive gebunden, dass der Leser nur das Gutmütige an ihr sieht. Gesprochen wird sie nämlich von einem alten Raben, der »auf Stuttgarts Deponien« herunterschaut und auf einen Ort, wo einst der Galgen stand. Heute thront hier eine »Freizeitanlage«, auf der jene Jugendlichen zu Gange sind. Wo junge Türken arglos balgen und von einem Raben beäugt werden … Altersweise und nicht wirklich einer von uns ist das Tier, daher nimmt man ihm seine Gönnerhaftigkeit nicht übel. Zu schön ist ja auch das Wort »balgen«. Verschmitzt ist es – und das Verschmitzte ist selten geworden in der Lyrik und umso mehr willkommen.

Zumal Deine Zeile ein Vorbild hat und dieses an Konkretion übertrifft: Sie erinnert uns an Schiller, bei dem »rohe Kräfte sinnlos walten«. Der etwas abstrakte Aphorismus krönt in der »Glocke« ein zuvor beschriebenes Geschehen. Bei Dir eröffnet das Konkrete, das von fern an den Schiller’schen Aphorismus erinnert, den Blick auf ein historisches Panorama württembergischer Geschichten, vom kalten Raben-Buffet ausgehackter Gehenkter bis zu wirbelnden Joghurtbechern und Dosenbierdosen auf einem Boden alter Mythen. Die poetologischen Urväter der Moderne – … ja, ja, hast Recht, ich meine Benn, wen denn sonst! Also gut, jedenfalls, der poetologische Urvater der Moderne würde Dich zu dieser klassisch gesättigten, konkreten und verschmitzten Stuttgarter Raben-Volte beglückwünschen.

Der Südwesten hat es Dir überhaupt angetan, wie es aussieht. Und wenn ich mal prophetischer Warner spielen soll, dann würde ich sagen, Jürgen, Du provozierst durch ein Gedicht in Deiner Kalebasse einen Bürgerkrieg, und zwar im Schwarzwald-Baar-Kreis. Dort entspringen sowohl die Brigach als auch die Breg, und dort fließen sie auch zusammen, um dann Donau zu heißen. So denkt man jedenfalls. »Der Zorn der Brigach« heißt nun Dein kraftvoller Monolog des kleineren Flusses, der sich über die dahergeflossene »kalte Fürstenpisse« der Breg beschwert, »dieses Rinnsal«, das als »gottverdammter Brunzstrahl« so viel mehr Aufmerksamkeit beansprucht als die Brigach, die stolz und breit und kraftvoll und überhaupt eigentlich viel wichtiger sei. »Doch sieht und weiß das natürlich kein Arsch | Millionen plappern die Verse | Ich brächte mit der Breg die Donau zuweg« – Deine Brigach geht mit all denen nicht zimperlich um, die das Donau-Ursprungs-Sprichwort auf den Lippen führen.

Reim, Heimat und Kraftausdruck, das ist ein schlagkräftiges Trio! Es haut voll rein, wenn es nur verschmitzt daherkommt, und das tut es, verschmitzt und mit einer gehörigen Selbstironie, die Deine zornige Brigach am Ende noch hinbekommt, wenn sie sich etymologisch korrekt »die Brigach, die schöne und resche« nennt – fast wieder putzig. Trotzdem, Jürgen, Dein zorniger Fluss-Monolog wird den Streit um die Donauquelle weiter befeuern und schwelenden Eifersüchteleien vollends zum Ausbruch verhelfen – der Bürgerkrieg in Schwarzwald-Baar naht, Jürgen, ich sag’s Dir!

Ich geh schon mal in Deckung. Deine Depeschen erwartet, zaghaft grüßend,
Christophe
 

Jürgen Egyptien: KalebasseJürgen Egyptien
Kalebasse

Gedichte
Edition Virgines, Düsseldorf 2015
Hardcover, 94 S.
€ 13,– (D)

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Christophe Fricker. Foto: © Chiara Dazi
Christophe Fricker.
Foto: © Chiara Dazi

Christophe Fricker, geb. 1978, schreibt über die Möglichkeiten von Freundschaft, die Grenzen des Wissens und die Unwägbarkeiten der Mobilität. Mit Tom Nolan und Timothy J. Senior veröffentlichte er den zweisprachigen, illustrierten Gedichtband »Meet Your Party«. 2015 gab er die »Gespräche über Schmerz, Tod und Verzweiflung« zwischen Ernst Jünger und André Müller heraus, die das Deutschlandradio eine »Sensation« nannte. Frickers Buch »Stefan George: Gedichte für Dich«, eine Einführung in das Werk Georges, stand auf Platz 2 auf der NDR/SZ-Sachbuchbestenliste. Für den Gedichtband »Das schöne Auge des Betrachters« wurde er mit dem Hermann Hesse Förderpreis ausgezeichnet.

Alle bereits erschienenen Folgen von »Dichterbriefe« finden Sie hier.

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