Dichterbriefe – Folge 10: Von Anfang bis Zwiekraft – Christophe Fricker schreibt Thomas Böhme

Christophe Fricker schreibt jeweils am 1. des Monats einem Dichterfreund, dessen Buch er gerade gelesen hat. Die Texte sind eine Mischung aus Offenem Brief zu Lyrik und Gesellschaft, bewusst parteiischer Rezension und vertrautem Austausch. Und damit hoffentlich auch weniger langweilig als Rezensionen, die ihre eigene Voreingenommenheit vertuschen.

 

Lieber Thomas,

ein Geständnis vorweg: Du wirst für mich, egal wie viele wunderbare Bücher Du noch veröffentlichen wirst, immer der Autor von »In den Anfängen des Gedichts« bleiben, jener hymnischen Feier der Ursprünge, aus denen Gedichte möglich sind und wirklich werden. Als meine Redaktionskollegen bei der inzwischen längst eingestellten Zeitschrift Castrum Peregrini und ich es kurz nach der Jahrtausendwende im Manuskript lasen, war uns sofort klar, dass wir hier in einer Weise angesprochen werden, die uns außergewöhnlich viel über uns selbst und unsere nie endende Geschichte sagt. Das Gedicht habe ich mir eben wieder herausgesucht, und mein erster Impuls ist auch diesmal, dass ich es laut vorlesen will. Wer wird nicht angefeuert von einer Strophe wie dieser, mitten herausgegriffen aus dem langen Text:

Unbändig liebende waren wir in den anfängen des gedichts,
Liebende, die nichts laues, nichts halbherziges, ihre leiden-
Schaften verkleinerndes von sich gaben, maasslose nannte man uns,
Unersättlich in unserer gier, uns zu vereinen, männer, die alles,
Was ihrer liebe im weg stand, hinwegfegen konnten mit einem
Einzigen, donner und sturmgeheul übertönenden vers.
 

Viel zu oft schleichen Dichter verschämt an den Grenzen des Sagbaren umher und inszenieren ihr Verstummen und ihr Unverständnis, anstatt den Sprachlosen und den ihrer Stimme Beraubten Mut zu machen. Dein unlaues, lautes, Dein freies und verbindliches Gedicht tut das. Es ist keines dieser »Gedichte über Gedichte«, die ihr literaturgeschichtliches Fußnotendasein in vorauseilendem Gehorsam auf sich nehmen. Du hast Mut, einen prometheischen, Goethe’schen Mut, und sprichst uns diesen Mut zu, den Glauben an unsere Sprachkraft:

[…] klagende auch waren wir in den anfängen des gedichts,
Wehklagende vor der grossen gleichmut des himmels, deren jammer
Beim anblick eines getöteten freundes, eines zerstückelten bruders,
Des entweihten oder verschmähten opfers gar den Unnahbaren
Selber erbarmte, dass er die fäden des schicksals neu knüpfte
Und ein einmal gesprochenes ‚Schuldig!‘ zurücknahm.
 

Untergründig zeigt sich hier: Du bist ein aufmerksamer Leser Stefan Georges; auch in Deinem neuen Buch Abdruck im Niemandswo (dessen Titel viel sperriger ist als die meisten Gedichte darin) höre ich Anklänge an den lange Zeit verschmähten Dichter: Symbolistisch geschulte Klangdichte und die Freude am Schönen im Mitmenschen verbinden sich zum Beispiel in Deiner »Weizenschalmei«: »In splissen Feldern, mohndurchgittert | holt Janos sich den Vogelsegen. | Das Korn, vom Tschilpen überwölkt | sticht seine nacktgeschmückten Füße.«

Wichtiger noch: Sinnlichkeit und Glaube durchdringen sich bei Dir wie bei George in Gedicht um Gedicht in einer Weise, die für das rationale 20. Jahrhundert skandalös war und die Du wieder ins Recht setzt. Du fragst mit Nachdruck: Was »weiß einer schon von Gebeten | der sich von Zugetragnem ernährt?« Gebet und eigene Erfahrung, nicht nur Feststellung, Hörensagen und Erlebnis machen uns Menschen im tiefsten Inneren aus.

Und an George schließt auch an, dass Du Deine gewachsene Umwelt ernst nimmst und sie nicht, wie Aktivisten und Politiker, mit gönnerhafter Geste zur schützenswerten Natur erklärst. Dein Wort ehrt ihre Eigenmacht: »Die Trauben waren überreif, schon früh im Herbst | fiel Frost ein in die Reben, doch die Ernte brummte.« In diese Welt tritt, leichtfüßiger als bei George, eine pfiffig-faunenhafte Gestalt, die Dich an der Nase herumführt, bis Du umkehrst, »noch ganz bedröhnt von all den schweren Weinen | die auf den Höfen rings zur Probe und zu gutem Preise | dem Wandrer eingeschenkt und aufgenötigt wurden.«

Abdruck im Niemandswo ist ein dickes Buch – hundertfünfzig Seiten Gedichte, kaum eines davon kurz. Es beginnt düster und verzweifelt, in der Unwirtlichkeit der Werkstättenlandschaften unserer ungefühlten Nähe. Es beginnt mit Erinnerungen an eine Kindheit, deren Freiräume errungen werden mussten. Es hat etwas von einem Kompendium, einem Almanach in seiner Fülle der Formen, aber schon allein in dieser Fülle etwas Tröstliches. Und es klart auf, es wird gerade in den geschilderten Begegnungen mit Menschen und Göttern und Landschaften hoffnungsvoller. Es hat auch Witz, ohne zynisch zu sein.

Dein schönstes Anknüpfen an George allerdings ist das Wort »Zwiekraft« im Gedicht »Prekäre Tage« – ein wunderbar klares, neues Wort, bei dem ich staune, dass es neu sein soll. Genau diese Form des Neuen aber ist so verdienstvoll: in der das Alte nicht verleugnet wird.

Dafür dankt Dir, herzlich grüßend,
Christophe

 

Christophe Fricker. Foto: © Chiara Dazi
Christophe Fricker.
Foto: © Chiara Dazi

Christophe Fricker, geb. 1978, schreibt über die Möglichkeiten von Freundschaft, die Grenzen des Wissens und die Unwägbarkeiten der Mobilität. Mit Tom Nolan und Timothy J. Senior veröffentlichte er den zweisprachigen, illustrierten Gedichtband »Meet Your Party«. 2015 gab er die »Gespräche über Schmerz, Tod und Verzweiflung« zwischen Ernst Jünger und André Müller heraus, die das Deutschlandradio eine »Sensation« nannte. Frickers Buch »Stefan George: Gedichte für Dich«, eine Einführung in das Werk Georges, stand auf Platz 2 auf der NDR/SZ-Sachbuchbestenliste. Für den Gedichtband »Das schöne Auge des Betrachters« wurde er mit dem Hermann Hesse Förderpreis ausgezeichnet.Alle bereits erschienenen Folgen von »Dichterbriefe« finden Sie hier.

Ein Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert