Im babylonischen Süden der Lyrik – FOLGE 61: »HALBZEIT BEIM ›30. INTERNATIONALEN POESIEFESTIVAL 2020 IN MEDELLÍN‹ (KOLUMBIEN) – ERINNERUNGEN AN SIGFREDO ARIEL (KUBA)«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

Die erste Hälfte – 35 Tage – der aktuellen 30-Jahrfeier des »Internationalen Poesiefestivals in Medellín« (Kolumbien) ist vollbracht, siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 60.

Porträt Liudmyla Diadchenko – Ukraine
Liudmyla Diadchenko – Ukraine
Porträt Joan Margarit – Spanien
Joan Margarit – Spanien
Porträt Kathelo Kano Shoro – Südafrika
Kathelo Kano Shoro – Südafrika
Porträt Tarek Eltayeb – Sudan/Österreich
Tarek Eltayeb – Sudan/Österreich
Porträt Reshma Ramesh – Indien
Reshma Ramesh – Indien
Porträt Aminur Rahman – Bangladesch
Aminur Rahman – Bangladesch
Porträt Mina Gligorić – Serbien
Mina Gligorić – Serbien
Porträt Paul Muldoon – Nordirland
Paul Muldoon – Nordirland
Porträt Khédija Gadhoum – Tunesien
Khédija Gadhoum – Tunesien
Porträt David Eggleton – Neuseeland/Fidschi
D. Eggleton – Neuseeland/Fidschi
Porträt Sigurbjörg Þrastardóttir – Island
Sigurbjörg Þrastardóttir – Island
Porträt Jidi Majia – China
Jidi Majia – China
Porträt Heike Fiedler – Schweiz
Heike Fiedler – Schweiz
Porträt Tobias Burghardt – Deutschland
Tobias Burghardt – Deutschland

Tagtägliche Lyriklesungen via Livestream – sowohl auf YouTube als auch Facebook – brachten bislang etliche faszinierende Lyriker*innen aus Afrika, Asien, der arabischen Welt, Ozeanien und Europa zusammen, u.a. die ukrainische Dichterin Liudmyla Diadchenko, den derzeitigen Cervantes-Preisträger Joan Margarit, siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 52, die südafrikanische Performance-Poetin Kathelo Kano Shoro, den sudanesich-österreichischen Lyriker Tarek Eltayeb, die indische Dichterin Reshma Ramesh,  den Bangladeschischen Dichter Aminur Rahman, siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 20, die serbische Lyrikerin Mina Gligorić, den nordirischen Dichter Paul Muldoon, die tunesische Lyrikerin Khédija Gadhoum, den neuseeländisch-fidschischen Dichter David Eggleton, die isländische Poetin Sigurbjörg Þrastardóttir oder den chinesischen Dichter Jidi Majia. Ihnen werden sich in der zweiten Halbzeit dann auch vermehrt die Dichter*innen aus Lateinamerika und der Karibik hinzugesellen.

 


Mehrsprachige Lesung mit Heike Fiedler und Tobias Burghardt

© alle Fotos & YouTube-Video: Prometeo, Medellín

 

Für die deutschsprachige Lyrikszene las ich am 25. August 2020 (zu sehen auch auf facebook) zusammen mit der in Düsseldorf aufgewachsenen und heute in Genf lebenden Autorin Heike Fiedler in diversen Sprachen für mehr als 5.000 zuschauende Lyrikhörende. Im Anschluss an die anderthalbstündige Lesung mit kurzen Statements folgte die »Memoria audiovisual« aus dem Video-Archiv der bisherigen Auftritte von Dichter*innen aus D-A-CH in Medellín, darunter von Markus Hedinger, Vahé Godel, Vince FascianiJochen Kelter, Claire Krähenbühl, Andreas Neeser, Nora Gomringer, Hans Magnus Enzensberger, Gerhard Falkner, Joachim Sartorius, Michael Speier, Julian Heun, Monika Rinck, Uwe Kolbe, Esther Dischereit und Ide Hintze.

Das größte Weltpoesiefestival wird noch bis zur großen Abschlusslesung am 10. Oktober 2020 andauern. In die erste oder auch zweite Halbzeit auf YouTube oder Facebook hineinzuschauen und -hören ist allemal empfehlenswert, siehe auch das vollständige Festivalprogramm.

 


Nachruf auf Sigfredo Ariel mit Videomitschnitt seiner Lesung in Medellín 1996 (YouTube-Video: Canal Caribe, Havanna / Prometeo, Medellín)

 

Porträt Sigfredo Ariel - Kuba
Der kubanische Dichter Sigfredo Ariel (1962-2020), Foto: Letralia – Tierra de Letras, Cagua, Venezuela

Zur Erinnerung an den kubanischen Dichter, Künstler und Radiojournalisten Sigfredo Ariel, den wir 1996 in Medellín kennen und schätzen gelernt hatten, der Wim Wenders musikalisch beratend bei der Dokumentarverfilmung »Buena Vista Social Club« (1999) zur Seite stand, den wir vor einigen Jahren zum »Internationalen Poesiefestival Al-Mutanabbi« nach Zürich einluden, aber leider vergeblich, weil absurde Visumsbürokratie-Hürden auftauchten, und der nun wenige Tage vor der diesjährigen Festivaleröffnung am Sonntagmorgen, 26. Juli 2020, viel zu früh in Havanna gestorben ist, bringen wir nachfolgend drei seiner Gedichte in deutscher Übersetzung: »und es wird bleiben das Licht, Broder*, das Licht, / und nichts anderes.« (Sigfredo Ariel)

*Anmerkung der Übersetzer: *Broder (bróder), gleichbedeutend mit brother, Bruder, aber in authentisch kubanischer Latino-Phonetik.

 

y quedará la luz, bróder, la luz,
y no otra cosa.
Sigfredo Ariel

 

Sigfredo Ariel
Jede Nacht eine Liebe

Ein Silberlöffel, der dunkle Schlamm
der Tasse, der Punkt einer Feder,
die Radierung von Zaida an der Wand:
das leichte und unordentliche Zubehör
dieser Tage, woran erinnert es
mitten in diesem Zimmer, das nicht ist.

Die unnützen Schallplatten, die ich in anderen
Mietwohnungen zurückließ, diese halbfertigen
Papiere, die fehlende Gelegenheit,
wozu sind sie gekommen.

Schweigsame Reste anderer Leben, die ich hatte,
gebeugt über den farbigen Kupferstich
unterm Himmel von Kuba,
die Nacht und die Zigarette
mit mir teilend.

 

Sigfredo Ariel
Der unerhörte Sommer

Diese Insel geschieht auf einer anderen Insel.

An ihren Rändern werden sie sich ereignen,
wie sie gewesen sind, so wie sie zum Schlafen gelegt wurden,
unsere Formen. Deine Hand isoliert sie,
um sich zwischen verlorenen
Musikklängen wiederzuerkennen,
diese Brücken, die wir manchmal
ein wenig geöffnet sehen – und einen Sandturm,
die Illusion des Landes, das wir
erahnten. Man hat uns an die Kreuzwege
gewöhnt – und daran, die Mühsal für später
aufzuheben. Du hast einen Weg
über den laufenden Tag gezeichnet,
und es wird ein Spiel sein, ihn mit dir zu überqueren.

In der Zehenspitze wird die Beschreibung
eines Vogels geschehen. Außerhalb
aller Wörter wird die wahre Insel
mit deinen Augen überblickt.

Und mitten in einer dunkelroten Wolke,
einer Wolke aus Quecksilber werden wir das Band aus dem Meer
aufsteigen sehen,
das uns bindet: Atem, den ich für dich
anhielt, als die Flut
– nicht aus Licht, sondern aus Schatten – den Blick
zu einem anderen Land hinwendet. Ich kann ein Wesen
aus Nichts sehen, zu einem anderen Mund geneigt,
das sich vorstellt:
auf deiner Hand meine durchscheinende Hand.

 

Sigfredo Ariel
Ein Haus wird es immer sein

Ein Haus wird der Turm von Babel immer sein
und die verzwickte Tarotkarte
aus Marseille,
die das Unglück von François Villon
und seinen zwanzig tüchtigen Bandoleros vorhersagte.

Du schläfst ruhig.
Sauber ist dieser Ort
du hast rundherum
unsere mageren Sachen aufgeräumt.

Es ist nationaler Winter
Morgen wird die Lilie erblüht sein
Wir werden sie anschauen gehen
und nichts sagen.

Wie klein das Land ist, wir sind eitel
wie Huren mit Geld, wir lieben Babylon
unser Traum ist das Überqueren dieser Schwerelosigkeit
und uns über diese Abdrifte zu amüsieren.

Die Telefonistinnen versenken in die Elektrizität
ihre kleinen dreisten Phallen
es spricht Tokio es spricht Singapur es spricht Miami
die nationale Nacht strömt
wir verstreichen auf einer flachen Hand

Ich verwandle mich
Wir sind nicht mehr jung
inmitten dieser Verwirrung.

Die Nacht bläst einen Pfefferminzatem:
am Ende der Erinnerung vergingen weder
die Regierungen noch die Einschränkungen, nicht einmal
nutzen uns ihre Feinheiten
Wege, Arbeiten und Leiden.

Ich nehme an, dass wir es von vornherein erlaubt haben werden
ich kann gerade von diesen Tagen berichten, vielleicht kannst du
von dieser bescheidenen Lilie Zeugnis ablegen.

Wenn ich mir
in der jetzigen Dunkelheit zuhöre, würde ich dich hören.
Es sind die jetzigen Tage, die wir
unter andern dunklen erwählten, die in der Nähe herumgingen.

In Frieden schläft, dort draußen strömt
die nationale Nacht,
und mir ist kalt.

 

Aus dem kubanischen Spanisch von Jona und Tobias Burghardt

 

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018) und sein aktueller Gedichtband »Die Elemente der See«. Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem Internationalen KATHAK-Literaturpreis in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.

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