Eingestreute Kritik: »Den Toten bewachen« von Jean-Louis Giovannoni – großartig und mutig

eine Rezension von Christoph Kleinhubbert

Im Verlag Elsinor ist aktuell ein kleiner Gedichtband von Jean-Louis Giovannoni mit dem Titel »Den Toten bewachen« erschienen. Ein Büchlein in der Größenordnung eines Gesangbuchs, einer Kinderbibel, klein, optisch zudem geradezu unscheinbar, inhaltlich jedoch tonnenschwer. Den Toten – also einen bestimmten Toten – bewachen … Was bedeutet das? Warum einen Toten bewachen. Will man ihn schützen, den toten Körper. Will man andere vor dem toten Körper schützen?

In der vorliegenden zweisprachigen Ausgabe befinden sich ca. 60 Gedichte, die zum Teil mit zwei Zeilen sehr kurz ausfallen. Hier wird im Wortsinne gedichtet, also verdichtet, hier ist kein Raum für Abschweifungen, hier geht’s um die Sache (Sterben / Tod / Entsorgung / Trauer) und es geht zur Sache: »einen sterbenden / berührt man nicht / leute mit offenen wunden an den händen / sollten sich vorsehen / man kann nie wissen«. An anderer Stelle schreibt Giovannoni: »man lässt ihn nicht / auf dem bett / die form / prägt sich zu stark ein / man muss auch an die denken / die sich später da reinlegen«.

Gedichte, die sich einprägen, im Leser verfangen

Der Autor war 24 Jahre alt, als er das Sterben seiner Mutter begleitete. Ihr Sterben war für ihn der Anlass dazu, diese Gedichte zu schreiben, die mit ihren schlichten Worten geradezu leichtfüßig daherzukommen scheinen, ja sogar zunächst banal wirken können. Tatsächlich prägen sie sich ein, verfangen sich im Leser und werden dort schwer. Man überdenkt die Begegnungen, die man selbst mit Tod und Sterben hatte. Man begreift die Tiefe und Schwere der Situation, die Tristesse, das Unmaskierte, das Gnadenlose des Sterbens, des Totgegangenseins, und man wird einbezogen in die Stunden, die auf den Tod folgen: »der gelbe körper sehr fahl / es ist nicht unser / das ist es was man sich sagt«.     

Da ein Gedicht bekanntlich mehr sagt als tausend Worte, möchte ich hier noch einen weiteren Text aus dem Buch herauspicken: »man darf nicht zu lange warten / bis man ihn anzieht / wenn die kälte ihn schon / zu lange gepackt hat / riskiert man ihm die knochen zu brechen«.

Vielleicht muss man den Toten bewachen, weil sonst einer kommt und ihm die Knochen aus Rohheit oder Unachtsamkeit bricht. Vielleicht muss man den Toten bewachen, weil es einer tun muss, um sicherzugehen, dass der Tote tot ist, dass nichts weiter geschieht, das angehalten bleibt, was angehalten ist: »der körper / gräbt sich ins bett / man braucht bretter / dass er nicht rausfällt«.

Auch das Nachwort: lesenswert

Éric Vuillard schließt den Gedichtband mit einem sehr hellsichtigen Nachwort. Verständlicherweise hat sein Beitrag die Gedichte und den Dichter zum Thema. Er ist gut und verständlich geschrieben. Lesenswert sind aber auch seine Ausführungen zur »Poesie der Pastellmalerei«.

»Den Toten bewachen« ist ein Buch für die Monate November bis März, dann muss man ans Licht und zurück ins Leben. Der Tod ist jedoch durchgehend, 365 Tage im Jahr, gegenwärtig. So einfach wie wahr ist also eine Aussage auf dem Buchumschlag: »… die geradezu aufdringlich nahgekommene Erkenntnis, dass Leben nur mit der Gewissheit des Todes zu haben ist.« Jede Zeile dieses kleinen, großartigen und mutigen Buches führt uns das vor Augen. Das muss man aushalten können. Man wird es aushalten müssen.

Jean-Louis Giovannoni
Den Toten bewachen – Garder le Mort
Gedichte

Jean-Louis Giovannoni: Den Toten bewachen – Garder le Mort (Coverabbildung)

Deutsch von Paula Scholemann
und Christoph Schmitz-Scholemann
Nachwort von Éric Vuillard
Elsinor 2021
156 Seiten, Klappenbroschur, 16,00 Euro
ISBN 978-3-942788-57-1

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